Die Augen des Drachen - Roman
nagende Tier in seinem Gehirn vertreiben konnten.
Was konnte nicht stimmen?
Diese Frage stellte er sich immer wieder, und es schien so - zumindest an der Oberfläche -, dass nichts hatte schiefgehen können. Seit vielen Jahrhunderten hasste das alte, dunkle Chaos in ihm die Liebe und das Licht und die Ordnung in Delain, und er hatte hart gearbeitet, sie zu vernichten - sie umzustürzen, wie die letzte Windbö die Kirche der Großen Götter umgestürzt hatte. Immer hatte etwas seine Pläne durchkreuzt - eine Kyla die Gütige, eine Sasha, etwas, jemand. Aber jetzt sah er keine mögliche Störung, wohin er auch schaute. Thomas war vollkommen sein Geschöpf; hätte Flagg ihm befohlen, vom höchsten Turm seines Schlosses zu springen, so hätte der arme Narr lediglich gefragt, um wie viel Uhr er es tun sollte. Die Bauern stöhnten unter der Last der unerträglichen Steuern, die Thomas ihnen auf Flaggs Anraten hin auferlegt hatte.
Yosef hatte Peter gesagt, dass Menschen ebenso wie Seile und Ketten eine Bruchbelastung haben, was zutreffend ist - und die Bauern und Kaufleute in Delain hatten ihre fast erreicht. Das Seil, mit dem die großen Klötze der Steuern an jedem Bürger festgebunden werden, ist nichts weiter als Loyalität - Loyalität gegenüber dem König, dem Land, der Regierung. Flagg wusste, wenn er die Steuerquader groß genug machte, würden alle Seile reißen, und die dummen Ochsen - denn als solche betrachtete er das Volk von Delain in Wirklichkeit - würden ausbrechen und alles in ihrem Weg niedertrampeln. Die ersten Ochsen hatten sich bereits befreit und im Norden versammelt. Sie nannten sich noch Verbannte,
aber Flagg wusste, sie würden sich früher oder später Rebellen nennen. Peyna war vertrieben worden, und Peter war in der Nadel eingesperrt.
Was also konnte nicht stimmen?
Nichts? Verdammt, nichts!
Aber das Frettchen lief und nagte und biss und kratzte. Viele Male war er im Verlauf der vergangenen drei Wochen in kalten Schweiß gebadet erwacht, nicht wegen des Fiebers, sondern weil er einen schrecklichen Traum gehabt hatte. Was war der Inhalt dieses Traums? Er konnte sich nicht erinnern. Er wusste nur, dass er, wenn er daraus erwachte, die linke Hand auf das linke Auge presste, als wäre er dort verwundet worden - und das Auge schmerzte, aber er konnte nicht feststellen, was damit nicht stimmte.
113
Als Flagg in dieser Nacht erwachte, war der Traum noch frisch in seiner Erinnerung, denn er war vorzeitig daraus geweckt worden. Natürlich hatte der Fall der Kirche der Großen Götter ihn geweckt.
»Huh!«, schrie Flagg und saß kerzengerade in seinem Sessel. Seine Augen waren weit aufgerissen, die bleichen Wangen klamm und feucht vor Schweiß.
»Katastrophe!«, kreischte einer der Köpfe des Papageis.
»Feuer, Flut und Flucht!«, kreischte der andere.
Flucht, dachte Flagg. Ja - das ging mir die ganze Zeit im Kopf herum, und das hat in mir genagt.
Er betrachtete seine Hände und stellte fest, dass sie zitterten. Das erboste ihn, und er sprang aus dem Sessel.
»Er möchte fliehen«, murmelte er und strich sich mit den Fingern durchs Haar. »Jedenfalls möchte er es versuchen. Aber wie? Wie? Wie ist sein Plan? Wer hat ihm geholfen? Ihre Köpfe werden rollen, das schwöre ich … und sie werden nicht mit einem Hieb abgeschlagen, sondern langsam, erst einen Zentimeter, dann zwei, dann drei … schön langsam. Der Schmerz wird sie schon lange, bevor sie sterben, wahnsinnig machen …«
»Wahnsinnig!«, kreischte einer der Papageiköpfe. »Schmerz!«, kreischte der andere.
»Seid still und lasst mich nachdenken!«, heulte Flagg auf. Er ergriff ein Glas mit einer trüben braunen Flüssigkeit
von einem Tisch in der Nähe und schleuderte es auf den Papageienkäfig. Dort zerschellte es; grelles, kaltes Licht flammte auf. Die beiden Köpfe des Papageis kreischten entsetzt auf. Er fiel von seiner Stange und lag bis zum Morgen erschrocken auf dem Boden des Käfigs.
Flagg begann hastig auf und ab zu gehen. Er hatte die Zähne entblößt. Seine Hände vollführten unruhige Bewegungen, bei denen die Finger einer Hand mit denen der anderen Hand im Wettstreit zu liegen schienen. Seine Stiefel schlugen grünliche Funken auf dem salpeterverkrusteten Steinboden des Laboratoriums; die Funken rochen wie die Blitze eines Sommergewitters.
Wie? Wann? Wer hat ihm geholfen?
Er konnte sich nicht erinnern. Der Traum verblasste bereits. Aber …
»Ich muss es wissen!«, flüsterte er. »Oh, ich muss es
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