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Die Augen des Drachen - Roman

Die Augen des Drachen - Roman

Titel: Die Augen des Drachen - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heyne
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jetzt«, sagte Ben. »Zeit zum Schlafen.«
    »Hurra!«, sagte Naomi und begann, Servietten für sich und Frisky auszubreiten. »Meine Füße fühlen sich an, als...«
    Dennis räusperte sich höflich.
    »Was ist denn?«, fragte Ben.
    Dennis betrachtete ihre Rucksäcke - Bens großen, Naomis etwas kleineren. »Ihr habt nicht zufällig … ähem, etwas zu essen dabei?«
    Naomi sagte ungeduldig: »Selbstverständlich haben wir etwas! Was meinst du denn …« Dann fiel ihr ein, dass Dennis Peynas Haus vor sechs Tagen verlassen und sich seither immer versteckt gehalten hatte. Er sah mager und ausgehungert aus, und sein Gesicht wirkte zu schmal und zu knochig. »O Dennis, es tut mir leid. Was sind wir doch für Narren! Wann hast du zum letzten Mal etwas gegessen?«
    Dennis dachte lange nach. »Ich kann mich nicht genau erinnern«, sagte er dann. »Die letzte richtige
Mahlzeit jedenfalls war mein Mittagessen vor einer Woche.«
    »Warum hast du das nicht gleich gesagt, du Dummkopf?«, fragte Ben.
    »Wahrscheinlich war ich so aufgeregt, euch zu sehen«, sagte Dennis grinsend. Als er zusah, wie die beiden ihre Bündel öffneten und in ihren restlichen Vorräten herumkramten, fing sein Magen lautstark an zu knurren. Das Wasser lief ihm im Mund zusammen. Dann fiel ihm etwas ein.
    »Ihr habt doch keine Rüben mitgebracht, oder?«
    Naomi drehte sich um und sah ihn verwirrt an. »Rüben? Ich habe keine. Du, Ben?«
    »Nein.«
    Ein sanftes und überaus glückliches Lächeln erhellte Dennis’ Gesicht. »Gut«, sagte er.

109
    Es war wahrhaftig ein schlimmer Sturm, und noch heute erzählt man sich in Delain davon. Als sich die frühe, heulende Dämmerung über das Schloss und seine Umgebung senkte, waren ein Meter fünfzig Schnee gefallen. Ein Meter fünfzig Schnee an einem Tag ist wahrhaft viel, aber der Wind bildete stellenweise Verwehungen, die noch viel höher waren. Als die Dunkelheit hereinbrach, wehte der Wind nicht mehr heftig, er wehte orkanartig. Entlang der Schlossmauer war der Schnee fast acht Meter hoch aufgetürmt und deckte nicht nur die Fenster im ersten und zweiten, sondern teilweise auch noch die im dritten Stock zu.
    Ihr denkt vielleicht, für Peters Fluchtpläne wäre das gut gewesen, und das wäre es auch, wäre die Nadel nicht ganz allein auf dem Platz gestanden. Aber da stand sie nun einmal, und dort blies der Wind am heftigsten. Ein kräftiger Mann hätte in diesem Wind nicht stehen bleiben können; er wäre umgeweht worden und kopfüber fortgeweht, bis er gegen die erste Mauer am Ende des Platzes geprallt wäre. Und der Wind hatte noch eine andere Nebenwirkung - er wirkte wie ein riesiger Besen. Der Wind wehte den Schnee, kaum dass er fiel, wieder vom Platz.
    Als es dunkelte, waren die Schlossmauern und die meisten Gassen im Westen der Stadt zugeweht, der Platz selbst aber war sauber wie geleckt. Nur das gefrorene
Kopfsteinpflaster wartete darauf, Peters Knochen zu brechen, falls sein Seil riss.
    Und ich muss euch jetzt sagen, dass Peters Seil tatsächlich reißen musste. Als er es erprobte, da hatte es sein Gewicht ausgehalten … aber eines wusste Peter nicht über die geheimnisvolle Bruchbelastung. Yosef hatte es auch nicht gewusst. Aber die Ochsenlenker wussten es, und wenn Peter sie gefragt hätte, so hätten sie ihm eine alte Faustregel von Matrosen, Holzarbeitern, Näherinnen und allen anderen sagen können, die mit Faden oder Seilen arbeiteten: Je länger das Seil, desto eher reißt es.
    Peters kurzes Testseil hatte ihn gehalten.
    Das Seil, dem er nun sein Leben anvertrauen wollte - das sehr dünne Seil -, war etwa achtzig Meter lang.
    Ich sage euch, das Seil musste reißen - und unten wartete das Kopfsteinpflaster, um ihn zu zerschmettern, seine Knochen zu brechen und sein Blut fließen zu lassen.

110
    Es gab viele Katastrophen und Beinahekatastrophen an diesem langen, stürmischen Tag, aber ebenso viele Heldentaten, einige erfolgreich und einige zum Scheitern verurteilt. Einige Bauernhäuser in den Inneren Baronien wurden umgeweht, so wie die Häuser der unfolgsamen kleinen Schweinchen in dem alten Märchen umgeweht wurden, als der hungrige Atem des Wolfs darüberstrich. Einige von denjenigen, die auf diese Weise obdachlos geworden waren, schafften den langen Weg fest mit Seilen aneinandergebunden über schneebedeckte Felder zum Schloss, andere gerieten von der Großen Landstraße ab und in die Wildnis, wo sie elendiglich erfroren, und ihre kalten, von Wölfen angefressenen Leiber wurden erst nach

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