Die Augen des Drachen - Roman
»Kirche der Großen Götter« hieß; er stand schon seit Menschengedenken dort. Viele Menschen kamen zum Gebet dorthin, aber jetzt war er verlassen. Und das war gut so. Der Turm war nicht sehr hoch - längst nicht so hoch wie die Nadel -, aber er überragte die umliegenden Gebäude der Dritten Ostgasse dennoch um einiges, und er war den ganzen langen Tag von der unablässigen Kraft des Windes geplagt worden. Dieser letzte Windstoß war zu viel für ihn. Die obersten zehn Meter - alle aus Stein - wurden einfach fortgeweht wie der Hut vom Kopf einer Vogelscheuche in einer starken Windbö. Ein Teil landete auf der Straße, ein Teil prallte gegen umliegende Gebäude. Es gab einen Heidenlärm.
Der größte Teil der Schlossbewohner war erschöpft von den Anstrengungen des Tages und schlief bereits fest, und keinen interessierte der Einsturz der Kirche der Großen Götter (wenngleich sie die schneebedeckten
Trümmer anderntags mit offenen Mündern bestaunten). Die meisten murmelten etwas, drehten sich um und schliefen weiter.
Ein paar der Wachen - diejenigen, die nicht allzu betrunken waren - hörten es und liefen, um nachzusehen, was geschehen war. Abgesehen von diesen wenigen blieb der Fall des Turms fast unbemerkt … aber einige andere hörten ihn auch, und inzwischen kennt ihr sie alle.
Ben, Dennis und Naomi, die sich auf den Versuch vorbereiteten, den rechtmäßigen König zu retten, hörten es in der Vorratskammer der Servietten und sahen einander mit schreckgeweiteten Augen an. »Achten wir nicht weiter darauf«, sagte Ben nach einem Augenblick. »Ich weiß nicht, was es war, aber das spielt keine Rolle. Machen wir weiter.«
Beson und die Unterwachmänner, die allesamt betrunken waren, merkten nichts von dem Einsturz der Kirche der Großen Götter, Peter aber sehr wohl. Er saß auf dem Fußboden seines Schlafzimmers und ließ sorgfältig die geflochtene Schnur auf der Suche nach schwachen Stellen durch die Finger gleiten. Er hob den Kopf, als er das schneegedämpfte Poltern der Mauern hörte, und ging rasch ans Fenster. Er konnte nichts sehen; was immer eingestürzt war, es befand sich auf der anderen Seite der Nadel. Nachdem er einige Augenblicke überlegt hatte, kehrte er zu seinem Seil zurück. Mitternacht war nicht mehr fern, und er kam zu derselben Schlussfolgerung wie sein Freund Ben. Es spielte keine Rolle. Die Würfel waren geworfen. Nun musste er weitermachen.
Tief in der Dunkelheit des Geheimgangs hörte Thomas das Poltern des einstürzenden Turms und erwachte.
Er vernahm das gedämpfte Bellen von Hunden unter sich und erkannte voller Grauen, wo er sich befand.
Und noch einer, der unruhig geschlafen und beunruhigende Träume hatte, erwachte, als der Turm einstürzte. Er erwachte, obwohl er sich tief in den Eingeweiden des Schlosses befand.
»Katastrophe!«, kreischte einer der Köpfe des Papageis.
»Feuer, Flut und Flucht!«, kreischte der andere.
Flagg war erwacht. Ich habe euch gesagt, dass das Böse manchmal seltsam blind ist, und das stimmt. Manchmal lässt sich das Böse ohne ersichtlichen Grund einlullen und schläft.
Aber jetzt war Flagg wach.
112
Flagg war mit leichtem Fieber, einer schweren Erkältung und einem sorgenschweren Verstand von seinem Ausflug in den Norden zurückgekehrt.
Etwas stimmt nicht, etwas stimmt nicht, schienen selbst die Steine des Schlosses zu flüstern … aber Flagg konnte sich einfach nicht vorstellen, was es war. Er wusste nur, dass dieses unbekannte »Etwas stimmt nicht« scharfe Zähne hatte. Es fühlte sich an, als würde ein Frettchen durch seinen Verstand laufen und hier und da einmal zubeißen. Er wusste genau, wann das Tier begonnen hatte, in ihm zu nagen. Als er von der vergeblichen Suche nach den Rebellen zurückgekehrt war. Weil … weil …
Weil die Rebellen dort sein sollten!
Aber sie waren es nicht, und Flagg hasste es, zum Narren gehalten zu werden. Schlimmer noch, er hatte das Gefühl, einen Fehler gemacht zu haben, und das hasste er noch mehr. Wenn er einen Fehler gemacht hatte, was das Versteck der Rebellen anbelangte, dann konnte er auch andere Fehler gemacht haben. Welche anderen Fehler? Er wusste es nicht. Aber seine Träume waren schlimm. Das kleine, boshafte Tier trippelte in seinem Kopf herum, beunruhigte ihn, redete ihm ein, dass er wichtige Dinge vergessen hatte und dass hinter seinem Rücken andere Dinge geschahen. Es lief und biss und raubte ihm den Schlaf. Flagg hatte Medizinen, die die
Erkältung heilten, aber keine, die das
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