Die Augen des Drachen - Roman
viel älter sind, als Thomas es zu dem Zeitpunkt war, und die der Überzeugung sind, hohes Alter sei immer eine sanfte Zeit - ein alter Mensch besitze sanftes Wissen, sanfte Halsstarrigkeit oder Schläue und vielleicht die sanfte Verwirrung der Senilität. Davon gehen sie aus, können sich aber nicht vorstellen, dass noch echtes Feuer glüht. Sie haben die Illusion, dass mit siebzig jedes Feuer zu Kohle verglüht ist. Das mag zutreffen, aber in jener Nacht musste Thomas feststellen, dass glimmende Kohlen manchmal heftig aufflackern können.
Sein Vater ging mit raschen Schritten im Wohnzimmer auf und ab, der Pelzmantel wehte hinter ihm her. Die Nachtmütze war ihm vom Kopf gefallen, das graue Haar hing in wirren Locken herab, hauptsächlich über die Ohren. Er torkelte nicht, wie in früheren Nächten, in denen er zaghaft zwischen den Möbeln umhergegangen war und dabei die Hand ausgestreckt hatte, um nicht dagegenzustoßen. Er schwankte wie ein Seemann, doch er torkelte nicht. Als er doch einmal gegen einen der Sessel stieß, der an einer Wand unter dem fauchenden Kopf eines Luchses stand, schleuderte Roland den Stuhl mit solcher Heftigkeit von sich, dass Thomas zusammenzuckte. Die Haare an seinen Armen stellten sich auf. Der Sessel polterte durch das Zimmer und prallte gegen die Wand. Die Lehne aus Eisenholz splitterte in der Mitte - im volltrunkenen Zustand hatte der greise König noch einmal die Kraft seiner besten Mannesjahre erlangt.
Er sah mit blutunterlaufenen Augen zu dem Luchskopf empor.
»Beiß mich!«, brüllte er ihn an. Die grobe, heisere Stimme ließ Thomas erneut zusammenzucken. »Beiß mich, oder hast du Angst? Komm von der Wand herunter, Craker! Spring! Hier ist meine Brust, siehst du?« Er riss sich den Mantel auf und entblößte die magere Brust. Er bleckte seine wenigen Zähne gegen die vielen von Craker und hob den Kopf. »Hier ist meine Kehle! Komm schon, spring! Ich mache dich mit bloßen Händen fertig! ICH REISSE DIR DIE STINKENDEN EINGEWEIDE HERAUS !«
Er stand einen Augenblick mit entblößter Brust und dargebotener Kehle da und sah selbst wie ein Tier aus - vielleicht wie ein uralter Hirsch, der verbellt wird und
nun nur noch darauf hoffen kann, in Ehren zu sterben. Dann wirbelte er weiter, bis er vor einem Bärenkopf stand, dem er mit der Faust drohte und ihn mit Flüchen überhäufte - so grässlichen Flüchen, dass der verängstigte Thomas glaubte, der erboste Geist des toten Bären würde herabsteigen, in den ausgestopften Schädel fahren und seinen Vater vor seinen Augen zerfleischen.
Aber Roland war schon wieder fort. Er packte seinen Krug und leerte ihn, dann wirbelte er weiter, wobei Schaum von seinem Bart troff. Er schleuderte den Silberkrug so heftig gegen die Steinplatte des Kamins, dass eine Delle im Metall zu sehen war.
Nun kam sein Vater durch das Zimmer auf ihn zu, wobei er einen weiteren Stuhl beiseitewarf und dann mit bloßem Fuß einen Tisch wegstieß. Seine Augen sahen auf … direkt in die von Thomas. Ja, genau in seine hinein. Thomas spürte den Blick, und graues, panisches Entsetzen überkam ihn.
Sein Vater stapfte direkt auf ihn zu, die gelben Zähne entblößt, das schüttere Haar hing über die Ohren herab, Bier troff ihm vom Kinn und aus den Mundwinkeln.
»Du«, flüsterte Roland mit leiser, schrecklicher Stimme. »Warum starrst du mich so an? Was willst du sehen?«
Thomas konnte sich nicht bewegen. Entdeckt, winselte sein Verstand, entdeckt, bei allen gewesenen und kommenden Göttern, ich bin entdeckt und werde ganz bestimmt ins Exil geschickt!
Sein Vater stand unten und wandte keinen Blick von dem ausgestopften Drachenkopf. Voller Schuldgefühle dachte Thomas, sein Vater hätte mit ihm gesprochen, aber dem war nicht so - Roland sprach lediglich mit
Neuner wie mit den anderen Tierköpfen. Doch wenn Thomas aus den gefärbten Glasaugen heraussehen konnte, dann konnte Roland auch hineinsehen, wenigstens bis zu einem gewissen Grad. Wäre Thomas nicht vor Angst völlig gelähmt gewesen, dann wäre er von Panik überkommen davongelaufen - aber selbst wenn er genügend Geistesgegenwart besessen hätte, nicht zu weichen, seine Augen hätten sich sicher bewegt. Und wenn Roland gesehen hätte, wie sich die Augen des Drachen bewegten, was hätte er gedacht? Dass der Drachen wieder zum Leben erwachte? Vielleicht. Wenn ich seinen betrunkenen Zustand bedenke, halte ich das sogar für wahrscheinlich. Hätte Thomas in dieser Situation auch nur geblinzelt, hätte Flagg
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