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Die Augen des Drachen - Roman

Die Augen des Drachen - Roman

Titel: Die Augen des Drachen - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heyne
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verkleidet, aber als Flagg die Flamme an seinem Finger höher flackern ließ, sah Thomas zwei kleine Paneele. Flagg spitzte die Lippen und blies das Licht aus.
    In der völligen Schwärze flüsterte er: »Öffne diese beiden Platten niemals, wenn Licht brennt. Er könnte es sehen. Er ist alt, aber er sieht immer noch gut. Er könnte etwas sehen, obwohl die Augäpfel aus getöntem Glas bestehen.«
    »Was …«
    » Pst! Auch mit seinen Ohren ist noch alles in Ordnung.«
    Thomas verstummte, und das Herz pochte in seiner
Brust. Er verspürte eine große Aufregung, die er nicht verstand. Später dachte er, er sei so aufgeregt gewesen, weil er irgendwie gewusst hatte, was passieren würde.
    Er hörte ein leises, gleitendes Geräusch in der Dunkelheit, und plötzlich durchschnitt ein schwacher Lichtstrahl - Fackellicht - das Dunkel. Ein zweites gleitendes Geräusch, ein zweiter Lichtstrahl. Nun konnte er Flagg wieder sehen, wenn auch nur sehr undeutlich, und auch die eigenen Hände, wenn er sie emporhielt.
    Thomas sah, wie Flagg zur Wand trat und sich ein wenig nach unten beugte. Dann wurde der helle Fleck verdeckt, als er die Augen vor die beiden Löcher brachte, durch die das Licht hereinfiel. Er sah einen Augenblick hindurch, dann grunzte er und trat zurück. Er winkte Thomas. »Sieh selbst«, sagte er.
    Aufgeregter als je zuvor in seinem ganzen Leben, brachte Thomas vorsichtig die Augen an die Löcher. Er sah recht deutlich, wenngleich alles einen seltsam gelbgrünen Ton hatte - es war, als würde er durch Rauchglas sehen. Ein Gefühl überwältigender, entzückter Verwunderung stieg in ihm auf. Er sah ins Wohnzimmer seines Vaters hinab. Er sah seinen Vater in seinem Lieblingssessel - mit einer hohen Lehne, die Schatten über sein runzliges Gesicht warf - am Kaminfeuer sitzen.
    Es war eindeutig der Raum eines Jägers; bei uns hätte man es wohl als Jagdzimmer bezeichnet, wenngleich es so groß war wie manche gewöhnlichen Häuser. Flackernde Fackeln säumten die langen Wände. Überall waren Köpfe angebracht: Köpfe von Bären, von Hirschen, von Elchen, von Gnus, von Kormoranen. Es gab sogar einen großen Federex, einen Vetter unseres Sagentiers
Phoenix. Thomas konnte den Kopf von Neuner, dem Drachen, den sein Vater erlegt hatte, nicht sehen, aber das wurde ihm nicht gleich bewusst.
    Sein Vater stocherte lustlos in einem Stück Kuchen. Neben ihm dampfte eine Kanne Tee.
    Und mehr tat sich in diesem riesigen Zimmer, in dem mehr als zweihundert Menschen Platz finden konnten - und manchmal fanden -, nicht. Nur sein Vater, der einen Pelzmantel um sich geschlungen hatte und allein seinen Nachmittagstee trank. Und dennoch beobachtete Thomas ihn eine Zeitspanne, die endlos zu sein schien. Seine Faszination und seine Aufregung, während er seinen Vater heimlich betrachtete, lassen sich gar nicht beschreiben. Sein Herzschlag, der vorher schon schnell gewesen war, verdoppelte sich noch. Sein Blut sang und pulsierte in seinem Kopf. Seine Hände ballten sich so heftig zu Fäusten, dass er später in den Handballen blutige Halbmonde entdeckte, wo sich die Nägel ins Fleisch gegraben hatten.
    Warum erregte es ihn so sehr, einen alten Mann zu beobachten, der halbherzig ein Stück Kuchen aß? Nun, dabei müsst ihr zuerst bedenken, dass der alte Mann nicht irgendein alter Mann war. Er war Thomas’ Vater. Und das Spionieren, so traurig das ist, hat seinen eigenen Reiz. Wenn man Menschen sehen kann, aber sie selbst sehen einen nicht, dann scheint selbst die trivialste Handlung von Bedeutung zu sein.
    Nach einer Weile fing Thomas an, sich ein wenig für das zu schämen, was er tat, und das war eigentlich nicht überraschend. Schließlich ist es eine Art von Diebstahl, jemandem nachzuspionieren - man stiehlt einen Blick darauf, was Menschen tun, wenn sie allein sind. Das
aber ist auch die größte Faszination bei dem Ganzen, und Thomas hätte vielleicht noch stundenlang hingesehen, wenn Flagg nicht gemurmelt hätte: »Weißt du, wo du dich befindest, Tommy?«
    »Ich …« Glaube nicht, wollte er hinzufügen, aber selbstverständlich wusste er es. Sein Orientierungssinn war gut, und mit ein wenig Nachdenken konnte er aus seinem Blickwinkel Rückschlüsse ziehen. Plötzlich begriff er, was Flagg gemeint hatte, als er sagte, er, Thomas, würde seinen Vater durch die Augen seiner größten Trophäe sehen. Er sah etwa von halber Höhe der Westwand auf seinen Vater hinab … und dort war der größte Kopf von allen aufgehängt - der von Neuner,

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