Die Augen des Drachen - Roman
dem Drachen seines Vaters.
Er könnte etwas sehen, obwohl die Augäpfel aus getöntem Glas bestehen.
Nun verstand er auch das. Thomas musste die Hände auf den Mund pressen, um ein schrilles Kichern zu unterdrücken.
Flagg schob die Paneele wieder vor … aber auch er lächelte.
»Nein!«, flüsterte Thomas. »Nein, ich möchte mehr sehen!«
»Nicht heute Nachmittag«, sagte Flagg. »Für heute Nachmittag hast du genug gesehen. Du kannst wieder herkommen, wann du möchtest … aber wenn du zu oft herkommst, wirst du ganz sicher erwischt werden. Und jetzt komm. Wir gehen wieder.«
Flagg zündete die Zauberflamme wieder an und führte Thomas den Gang entlang. Am Ende löschte er die Flamme, und es war wieder ein gleitendes Geräusch zu hören, als er ein Guckloch öffnete. Er führte Thomas’
Hand dorthin, damit dieser wusste, wo es sich befand, dann befahl er ihm, hindurchzusehen.
»Siehst du, du kannst den Flur in beide Richtungen überblicken«, sagte Flagg. »Achte also stets darauf, dort hinauszusehen, bevor du die Tür öffnest, sonst wird man dich eines Tages überraschen.«
Thomas presste das Auge gegen das Guckloch und sah direkt gegenüber ein reich verziertes Fenster mit geneigten Glasscheiben. Das Fenster war viel zu ausgefallen für einen so kleinen Gang, aber Thomas begriff auch ohne lange Erklärungen, dass es die gleiche Person dort angebracht hatte, die auch die Geheimtür gebaut hatte.
Wenn man in die gegeneinandergeneigten Scheiben sah, konnte man in der Tat eine geisterhafte Reflektion des Flurs in beide Richtungen erkennen.
»Ist der Weg frei?«, flüsterte Flagg.
»Ja«, gab Thomas flüsternd zurück.
Flagg drückte auf eine Feder innen (wobei er wieder Thomas’ Hand führte, damit dieser sie später allein finden konnte), und die Tür öffnete sich klickend. »Jetzt rasch!«, drängte Flagg. Im Nu waren sie draußen und die Tür hatte sich wieder hinter ihnen geschlossen.
Zehn Minuten später waren sie zurück in Thomas’ Räumen.«Das war genug Aufregung für einen Tag«, sagte Flagg. »Vergiss nicht, was ich dir gesagt habe, Tommy: Benutze den Durchgang nicht so häufig, dass du erwischt wirst, und wenn du erwischt wirst« - Flaggs Augen funkelten grimmig -, »dann denk daran, dass du den Geheimgang zufällig gefunden hast.«
»Das werde ich«, sagte Thomas hastig. Seine Stimme klang spitz und krächzte wie ein Scharnier, das geölt
werden muss. Wenn Flagg ihn auf diese Weise ansah, dann fühlte sich sein Herz an wie ein in seiner Brust gefangener Vogel, der in panischer Angst mit den Flügeln schlägt.
27
Thomas befolgte Flaggs Rat, den Geheimgang nicht zu oft zu benutzen, aber dann und wann schlich er sich hin und beobachtete seinen Vater durch die Augen von Neuner - guckte in eine Welt, in der alles grün-golden war. Wenn er später mit pochenden Kopfschmerzen (was fast immer der Fall war) wegging, dann dachte er: Du hast Kopfschmerzen, weil du so gesehen hast, wie Drachen die Welt sehen - als wäre alles ausgetrocknet und würde gleich Feuer fangen. Und vielleicht war Flaggs Instinkt für Unheil in dieser Sache doch nicht so schlecht gewesen, denn während er seinem Vater so nachspionierte, lernte Thomas eine neue Empfindung Roland gegenüber kennen. Bevor er von dem Geheimgang gewusst hatte, hatte er Liebe für ihn empfunden, manchmal Trauer, weil er ihn nicht glücklicher machen konnte, und manchmal Angst. Nun lernte er auch, Verachtung für ihn zu empfinden.
Wenn Thomas ins Wohnzimmer seines Vaters sah und ihn in Gesellschaft vorfand, entfernte er sich rasch wieder. Er blieb nur, wenn sein Vater allein war. Früher war Roland selten allein gewesen, nicht einmal in solchen Zimmern wie seinem Jagdzimmer, das Teil seiner »Privatgemächer« war. Es gab stets etwas Dringenderes zu tun, noch einen Ratgeber anzuhören, noch eine Bittschrift, die entschieden werden musste.
Aber Rolands Zeit der Macht neigte sich dem Ende
zu. Seine Bedeutung schwand mit seiner Gesundheit, und er erinnerte sich, wie er Sasha oder Flagg häufig zugerufen hatte: »Werden mich diese Leute denn niemals in Ruhe lassen?« Bei der Erinnerung daran umspielte ein wehmütiges Lächeln seine Lippen. Nun ließen sie ihn in Ruhe - und er vermisste sie.
Thomas empfand Verachtung, weil Menschen sich fast nie von ihrer besten Seite zeigen, wenn sie allein sind. Meistens legen sie ihre Masken der Höflichkeit, Ordnung und guten Erziehung ab. Und was kommt darunter zum Vorschein? Ein warziges Ungeheuer? Eine
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