Die Augen des Drachen - Roman
Dieses eine Mal war es Thomas sogar recht - er wollte nicht, dass sein Vater ihn öfter als unbedingt notwendig ansah, wenigstens vorläufig nicht. Als er in dieser Nacht lange wach lag und den Wind draußen heulen hörte, kam er zu dem Ergebnis, dass er noch einmal davongekommen war … zwar nur mit knapper Not, aber davongekommen.
Aber niemals wieder, dachte er. In den darauffolgenden Wochen kamen die Albträume immer seltener. Schließlich blieben sie ganz aus.
Der Stallmeister des Schlosses, Yosef, behielt aber mit einem Recht: Knaben machen leichter Versprechungen, als sie sie einhalten, und schließlich wurde Thomas’ Verlangen, seinem Vater nachzuspionieren, wieder stärker als seine guten Absichten und Ängste. Und so kam es, dass Thomas Zeuge wurde, wie Flagg an jenem schicksalsschweren Abend den Becher mit dem vergifteten Wein zu Roland brachte.
29
Als Thomas an jenem Abend dorthin kam und die zwei kleinen Paneele beiseiteschob, tranken sein Vater und sein Bruder gerade ihren abendlichen Wein. Peter war inzwischen fast siebzehn, groß und stattlich. Die beiden saßen am Feuer und tranken und unterhielten sich wie alte Freunde, und Thomas spürte, wie der alte Hass sein Herz mit Säure erfüllte. Nach einer Weile stand Peter auf und zog sich höflich zurück.
»Neuerdings gehst du immer ziemlich früh«, bemerkte Roland.
Peter murmelte verneinend.
Roland lächelte. Es war ein freundliches, wehmütiges Lächeln, beinahe zahnlos. »Ich habe gehört«, sagte er, »dass sie sehr schön ist.«
Peter schien zu erröten, was bei ihm ungewöhnlich war. Er stotterte, und das war noch ungewöhnlicher.
»Geh«, unterbrach Roland ihn. »Geh. Sei zärtlich zu ihr und freundlich … aber sei feurig, wenn Begehren in dir ist. Die späten Jahre sind kalte Jahre, Peter. Sei feurig, solange deine Jahre noch grün sind, solange es genügend Zunder gibt und das Feuer hell auflodern kann.«
Peter lächelte. »Ihr sprecht, als wäret Ihr sehr alt, Vater, doch auf mich macht Ihr einen starken und gesunden Eindruck.«
Roland umarmte Peter. »Ich liebe dich«, sagte er.
Peter lächelte ohne Verlegenheit oder Peinlichkeit.
»Ich liebe Euch auch, Vater«, sagte er, und in seiner einsamen Dunkelheit (Spionieren ist fast immer ein einsames Geschäft, und der Spion tut es fast immer im Dunkeln) verzog Thomas grässlich das Gesicht.
Peter ging, und etwa eine Stunde lang geschah nichts weiter. Roland saß trübsinnig am Kamin und trank ein Bier nach dem anderen. Er schrie und brüllte nicht, und er sprach nicht zu den Köpfen an der Wand; er schlug keine Möbel kurz und klein. Thomas hatte sich fast entschlossen zu gehen, als es zweimal klopfte.
Roland hatte ins Feuer gestarrt und war vom Spiel der Flammen beinahe hypnotisiert. Nun riss er sich davon los und rief: »Wer ist da?«
Thomas hörte keine Antwort, aber sein Vater stand auf und ging zur Tür, als hätte er eine vernommen. Er öffnete sie, und anfangs glaubte Thomas, seines Vaters Angewohnheit, mit den ausgestopften Köpfen zu sprechen, hätte eine neue und eigentümliche Wendung genommen - dass sein Vater nun unsichtbare menschliche Besucher erfand, um seine Langeweile zu vertreiben.
»Seltsam, dich zu dieser Stunde hier zu sehen«, sagte Roland und ging scheinbar ohne einen Begleiter zum Kamin zurück. »Ich dachte, du wärst nach Einbruch der Dunkelheit immer mit deinen Zaubersprüchen und Beschwörungen beschäftigt.«
Thomas blinzelte und rieb sich die Augen, und dann sah er, dass doch jemand da war. Einen Augenblick konnte er nicht genau erkennen, wer … und dann überlegte er, wie er hatte denken können, sein Vater sei allein, wo doch Flagg direkt neben ihm stand. Flagg trug zwei Gläser Wein auf einem silbernen Tablett.
»Altweibergeschwätz, mein Lord - Zauberer beschwören
in der Frühe ebenso wie spät nachts. Aber selbstverständlich müssen wir unserem finsteren Ruf gerecht werden.«
Rolands Sinn für Humor wurde durch den Genuss von Bier immer angeregt - manchmal so sehr, dass er über Sachen lachen konnte, die überhaupt nicht komisch waren. Nach dieser Bemerkung warf er den Kopf zurück und platzte los, als wäre dies der beste Witz, den er jemals gehört hatte. Flagg lächelte dünn.
Als Rolands Lachanfall abgeklungen war, sagte er: »Was ist das? Wein?«
»Euer Sohn ist kaum mehr als ein Knabe, aber seine Ehrfurcht vor dem Vater und seine Hochachtung vor dem König haben mich beschämt, mich, einen erwachsenen Mann«, sagte Flagg. »Ich
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