Die Augen des Drachen - Roman
sich in dem Ascheneimer befand. Er sagte nur, dass er sofort mit seinem Vater sprechen müsse, wenn dieser nach Hause kam - es sei schrecklich wichtig. Dann ging er in sein Zimmer und überlegte, was es für ein Gift genau gewesen war. Er wusste nur eines, aber das genügte im Grunde. Es war etwas Heißes gewesen.
35
Brandon kam kurz vor zehn Uhr nach Hause, er war verärgert, gereizt und erschöpft und hatte keinen Sinn für Albernheiten. Er war schmutzig und verschwitzt, auf seiner Stirn war eine dünne Schnittwunde, Spinnweben hingen wie lange Fahnen von seinem Haar herab. Sie hatten keine Spur des Attentäters gefunden. Die einzigen Neuigkeiten, die er mitbrachte, waren die, dass die Vorbereitungen für Peters Krönung auf dem Platz der Nadel in höchster Eile vorangetrieben wurden; Anders Peyna, Delains Oberster Richter, hatte die Leitung.
Seine Frau berichtete ihm, wie Dennis nach Hause gekommen war. Brandons Miene wurde finster. Er ging zur Tür zum Zimmer seines Sohnes und pochte nicht mit den Knöcheln dagegen, sondern mit der geballten Faust. »Komm sofort heraus, Junge, und erzähle uns, weshalb du mit einem Ascheneimer aus den Gemächern deines Herrn zurückkommst!«
»Nein«, sagte Dennis, »du musst hereinkommen, Vater - ich möchte nicht, dass Mutter sieht, was ich mitgebracht habe, und sie soll auch nicht hören, was wir zu besprechen haben.«
Brandon stürmte hinein. Dennis’ Mutter wartete besorgt am Herd; sie vermutete, dass es sich um eine etwas hysterische Narretei handelte, die der Junge sich ausgedacht hatte, irgendein Unfug, und dass sie schon sehr
bald Dennis’ Wehklagen hören würde, wenn ihr übermüdeter und erschöpfter Mann, der heute Mittag damit anfangen musste, nicht einem Prinzen zu dienen, sondern einem König, alle seine Ängste und Frustrationen an der Kehrseite des Jungen ausließ. Sie konnte Dennis keinen Vorwurf machen; alle im Schloss schienen heute Morgen hysterisch zu sein und liefen herum wie Irre, die gerade aus der Irrenanstalt entlassen worden sind, verbreiteten hundert falsche Gerüchte und nahmen sie dann wieder zurück, um sie durch hundert neue zu ersetzen.
Aber niemand hob hinter Dennis’ Tür die Stimme, und sie kamen eine ganze Stunde lang nicht wieder heraus. Und als sie herauskamen, sah sie das totenbleiche Gesicht ihres Mannes, und die arme Frau fühlte sich, als würde sie auf der Stelle ohnmächtig werden. Dennis folgte seinem Vater auf dem Fuß wie ein verängstigter Welpe.
Nun trug Brandon den Ascheneimer.
»Wohin geht ihr?«, fragte sie schüchtern.
Brandon sagte nichts. Es schien, als könnte Dennis nichts sagen. Er rollte lediglich mit den Augen, dann folgte er seinem Vater zur Tür hinaus. Sie sah vierundzwanzig Stunden keinen von ihnen wieder und war der festen Überzeugung, dass sie tot waren - oder, schlimmer, dass sie in den Verliesen der Inquisition unter dem Schloss schlimme Martern erleiden mussten.
Ihre besorgten Gedanken waren freilich so abwegig nicht, denn dies waren vierundzwanzig schreckliche Stunden für Delain. Andernorts wäre der Tag vielleicht nicht so schrecklich gewesen, an Orten, wo Revolten, Aufstände und Alarme und mitternächtliche Hinrichtungen
zur Tagesordnung gehörten … solche Orte gibt es tatsächlich, wenngleich ich viel lieber sagen würde, dass dem nicht so ist. Aber Delain war seit Jahren - sogar seit Jahrhunderten - ein ordentliches und geordnetes Reich, und daher waren die Leute vielleicht verwöhnt. Der schwarze Tag begann so richtig, als Peter nicht am Mittag gekrönt wurde, und endete mit der schier unglaublichen Nachricht, dass er im Saal der Nadel wegen Verdacht des Mordes an seinem Vater vor Gericht gestellt werden sollte. Hätte es in Delain eine Aktienbörse gegeben, wäre sie wahrscheinlich zusammengebrochen.
Die Bauarbeiten an der Tribüne, wo die Krönung stattfinden sollte, begannen beim ersten Tageslicht. Die Plattform würde ein Behelf aus groben Brettern sein, das war Anders Peyna klar, aber man würde sie so mit Blumen schmücken, dass niemand es bemerken würde. Niemand hatte mit dem Hinscheiden des Königs gerechnet, denn Mord ist etwas, was man nicht vorhersagen kann. Könnte man es, so gäbe es keine Morde und die Welt wäre ganz sicher besser dran. Außerdem ging es nicht darum, Prunk und Pomp zur Schau zu stellen, sondern dem Volk zu zeigen, dass die Kontinuität des Throns gesichert war. Wenn das Volk das Gefühl hatte, dass trotz der schrecklichen Bluttat alles in Ordnung war,
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