Die Augen des Drachen - Roman
zerrte an dem Regal, und seine Angst wurde allmählich zu Panik. Wenn es eines gab, vor dem sich die Menschen dort und damals fürchteten, dann war es Feuer.
Schließlich ertastete er das Geheimfach. Auch das hatte Flagg vorausgesehen, denn schließlich war das Geheimfach so geheim gar nicht - es genügte, einen Jungen zu amüsieren, mehr aber nicht. Die Rückwand des Regals glitt ein Stück nach rechts, und eine graue Rauchwolke quoll heraus. Der Geruch, der mit dem Rauch herauskam, war außerordentlich unangenehm - eine Mischung aus röstendem Fleisch, brennendem Fell und verkohlendem Papier.
Ohne nachzudenken schob Dennis das Fach ganz auf. Als er das tat, drang natürlich mehr Luft ein. Aus dem, was bisher nur geschwelt hatte, züngelten erste Flammen auf.
Dies war der alles entscheidende Punkt, die Stelle, an der Flagg sich nicht mit dem zufriedengeben konnte, was seiner Meinung nach mit Sicherheit geschah, sondern mit dem, was wahrscheinlich geschah. Alle seine Anstrengungen der vergangenen fünfundsiebzig Jahre hingen nun einzig und allein davon ab, was der Sohn eines Dieners tun oder lassen würde. Aber die Brandons waren seit undenklichen Zeiten Diener, und Flagg war davon ausgegangen, dass er sich eben auf ihre lange Tradition untadeligen Verhaltens verlassen musste.
Wäre Dennis angesichts der züngelnden Flammen vor Schrecken erstarrt, oder hätte er sich umgedreht, um einen Eimer Wasser zu holen, dann wären Flaggs sorgfältig angeordnete Beweise wahrscheinlich in grünlichen Flammen aufgegangen. Der Mord an Peters Vater wäre Peter nie in die Schuhe geschoben worden, und man hätte ihn am Mittag zum König gekrönt.
Aber Flagg hatte recht gehabt. Anstatt zu erstarren oder Wasser zu holen, griff Dennis in das Fach und schlug das Feuer mit den bloßen Händen aus. Es dauerte weniger als fünf Sekunden, und Dennis hatte kaum Brandwunden. Das erbarmenswerte Fiepen jedoch dauerte an, und als sich der Rauch verzogen hatte, sah er als Erstes eine Maus, die auf der Seite lag. Sie lag im Todeskampf. Es war nur eine Maus, und in Erfüllung seiner Pflicht hatte Dennis schon Dutzende ohne das geringste Mitleid getötet. Dennoch tat ihm dieser arme kleine Kerl leid. Etwas Schreckliches, das Dennis nicht begreifen
konnte, war der Maus zugestoßen. Rauch stieg in feinen Bändern aus ihrem Fell empor. Als er sie berührte, zog er die Hand pfeifend zurück - es war, als hätte er einen Miniaturofen wie den in Sashas Puppenhaus berührt.
Aus einer geschnitzten Holzkiste, deren Deckel leicht geöffnet war, quoll ebenfalls Rauch. Dennis öffnete den Deckel noch ein Stück weiter. Er sah die Pinzette und das Päckchen. Auf dem Papier waren eine Anzahl brauner Flecken erblüht, und es schwelte langsam vor sich hin, ging aber nicht in Flammen auf … auch jetzt noch nicht. Das Feuer war von Peters Briefen gekommen, denn die waren selbstverständlich nicht verhext gewesen. Die Maus hatte sie mit ihrem schrecklich heißen Leib angezündet. Nun war nur noch das schwelende Päckchen übrig, und etwas warnte Dennis, es besser nicht zu berühren.
Er hatte Angst. Hier hatte er es mit etwas zu tun, was er nicht verstand, was er vielleicht auch gar nicht verstehen wollte. Er wusste nur eines, er musste dringend mit seinem Vater sprechen. Sein Vater würde wissen, was zu tun war.
Dennis nahm den Ascheneimer und eine kleine Schaufel vom Kamin und ging damit zu dem Geheimfach. Mit der Schaufel nahm er den rauchenden Körper der Maus und warf ihn in den Ascheneimer. Er benetzte die verkohlten Reste der Briefe mit etwas Wasser, um ganz sicherzugehen. Dann schloss er das Fach, stellte die Bücher wieder hin und verließ Peters Gemächer. Er nahm den Ascheneimer mit sich, und nun fühlte er sich nicht mehr wie Peters loyaler Diener, sondern wie ein Dieb - seine Beute war eine arme Maus, die starb, noch bevor Dennis das Westtor des Schlosses passiert hatte.
Und noch ehe er das Haus auf der anderen Seite des Grabens erreicht hatte, dämmerte ein schrecklicher Verdacht in ihm - er war der Erste in Delain, dem dieser Verdacht kam, aber bei Weitem nicht der Letzte.
Er versuchte, den Gedanken aus seinem Kopf zu verdrängen, aber er kam immer wieder zurück. Was für ein Gift, überlegte Dennis, hatte König Roland das Leben gekostet? Was für ein Gift war es genau gewesen?
Als er das Haus der Brandons erreichte, war er in ziemlich schlechter Verfassung, und er beantwortete keine der Fragen seiner Mutter. Er zeigte ihr auch nicht, was
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