Die Augen des Drachen - Roman
während man Länge um Länge hinzufügt. Das Ergebnis sieht dann ein wenig wie beim chinesischen Fingerspiel aus … oder der geflochtene Teppich im Haus eurer Großmutter.
Peter brauchte drei Wochen, bis er genügend Kordeln beisammenhatte, um sich an dieser Technik zu versuchen, und eine vierte, um sich daran zu erinnern, wie genau das Muster von Über- und Untereinanderlegen aussah. Aber als er es geschafft hatte, hegte er wirklich Hoffnung. Die Schnur war dünn, und man hätte ihn für verrückt gehalten, ihr sein Gewicht anzuvertrauen, aber sie war belastbarer, als sie aussah. Er konnte sie zerreißen, aber nur wenn er sich die Enden fest um die Hände wickelte und daran zog, bis seine Oberarmmuskeln hervortraten und seine Nackenmuskeln anschwollen.
An der Decke seiner Schlafkammer waren einige massive Eichenbalken. Wenn er genügend Seil beisammenhatte, musste er sein Gewicht an einem von ihnen erproben. Wenn die Schnur riss, musste er eben wieder ganz von vorn anfangen … aber solche Gedanken waren sinnlos, und das war Peter klar - daher arbeitete er einfach unverdrossen weiter.
Jeder Faden, den er zog, war etwa fünfzig Zentimeter lang, aber durch das Weben und Flechten verlor er etwa fünf Zentimeter. Drei Monate brauchte er, um ein Seil aus drei Strängen zu machen - jeder Strang bestand aus hundertundfünf Baumwollfäden -, das neunzig Zentimeter lang war. Eines Nachts, als er sich sicher war, dass alle Wächter betrunken waren und unten Karten spielten, knüpfte er diesen Zopfstrick um einen Balken. Als er ihn herumgeschlungen und mit einem Laufknoten versehen hatte, hingen weniger als fünfundvierzig Zentimeter herab.
Es sah beklagenswert dünn aus.
Dennoch ergriff Peter es und hängt sich daran. Er presste die Lippen aufeinander und erwartete jeden Augenblick, dass das Seil reißen und er zu Boden fallen würde. Aber es hielt.
Es hielt.
Peter konnte kaum glauben, dass er an einer Schnur hing, die so dünn war, dass man sie fast nicht sehen konnte. Er hing fast eine ganze Minute daran, dann stieg er auf sein Bett, um den Knoten zu lösen. Seine Hände zitterten, als er dies tat, und er musste zweimal nach dem Knoten tasten, weil seine Augen sich mit Tränen füllten. Er hatte das Gefühl, sein Herz sei ihm nicht mehr so übergequollen, seit er Bens winzigen Brief gelesen hatte.
72
Er hatte das Seil unter der Matratze versteckt, bis Peter klar wurde, dass das nicht mehr genügte. An der Spitze des konischen Daches war die Nadel etwas mehr als hundert Meter hoch; sein Fenster befand sich etwa neunzig Meter über dem Erdboden. Er war einen Meter fünfundachtzig groß und traute sich zu, sich vom Ende des Seils etwa sechs Meter fallen zu lassen. Am Ende würde er dennoch fast zweiundachtzig Meter Seil verstecken müssen.
Er entdeckte einen lockeren Stein im Fußboden auf der Ostseite seines Schlafzimmers und löste ihn vorsichtig heraus. Überrascht und erfreut stellte er fest, dass sich darunter ein wenig freier Raum befand. Er konnte nicht hineinsehen, daher streckte er die Hand hinein und tastete in der Dunkelheit herum; sein ganzer Körper war steif und angespannt, während er darauf wartete, dass etwas in der Dunkelheit über seine Hand kroch … oder hineinbiss.
Nichts geschah, und er wollte die Hand gerade wieder herausziehen, als seine Finger etwas berührten - kaltes Metall. Peter holte es heraus. Wie er sehen konnte, handelte es sich um ein herzförmiges Medaillon an einer feinen Kette. Medaillon und Kette schienen aus Gold zu sein. Nach dem Gewicht zu urteilen, schien es sich auch nicht um falsches Gold zu handeln. Nachdem er eine Weile getastet hatte, fand er einen zierlichen Verschluss.
Er drückte darauf, und das Medaillon öffnete sich. Im Innern fand er zwei Bilder, auf jeder Seite eines - sie waren so fein wie die Bilder in Sashas Puppenhaus, vielleicht noch feiner. Peter betrachtete die beiden Gesichter mit dem verwunderten Ausdruck eines kleinen Jungen. Der Mann war sehr ansehnlich, die Frau wunderschön. Ein andeutungsweises Lächeln umspielte die Lippen des Mannes, und seine Augen hatten einen »Sei’s drum«-Ausdruck. Die Augen der Frau waren ernst und dunkel. Peters Verwunderung rührte teilweise daher, dass dieses Medaillon sehr alt sein musste, zumindest danach zu schließen, was er von der Kleidung der beiden sehen konnte, aber das war es nur zum Teil. Viel mehr verwunderte ihn die Tatsache, dass ihm die Gesichter auf unheimliche Weise bekannt vorkamen. Er hatte sie
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