Die Augen des Drachen - Roman
zu beeinflussenden Bruder.
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Anfangs dachte Peter übermütig daran, Beson ein weiteres Schmiergeld zu versprechen, wenn er das Medaillon und das alte Pergament zu Anders Peyna brachte. In seiner ersten Erregung kam es ihm so vor, als müsste dieses Schreiben Flagg eindeutig als den Schuldigen ausweisen und ihm, Peter, die Freiheit bringen. Eingehenderes Nachdenken überzeugte ihn allerdings davon, dass das zwar in einem Märchen so geschehen würde, aber nicht in Wirklichkeit. Peyna würde lachen und es als Fälschung bezeichnen. Und wenn er es ernst nahm? Das konnte das Ende des Obersten Richters und des eingesperrten Prinzen bedeuten. Peter hatte scharfe Ohren, und er lauschte genau dem Klatsch aus den Schänken und Trinkhallen, den Beson und die Unterwachmänner einander berichteten. Er hatte von der Steuererhöhung für die Bauern gehört, hatte den bitteren Witz gehört, der vorschlug, Thomas den Lichtbringer in Thomas den Steuerbringer umzutaufen. Er hatte sogar vernommen, dass einige besonders kühne Draufgänger seinen Bruder den Benebelten Thomas, den Ständig Besoffenen nannten. Die Axt des Henkers wurde mit der Regelmäßigkeit eines Uhrwerks geschwungen, seit Thomas den Thron von Delain bestiegen hatte, aber diese Uhr tickte Verrat-Aufruhr, Verrat-Aufruhr, Verrat-Aufruhr, und zwar mit einer Regelmäßigkeit, die ermüdend gewesen wäre, wäre sie nicht so furchterregend gewesen.
Mittlerweile glaubte Peter Flaggs Absichten zu durchschauen: die geordnete Monarchie von Delain endgültig zu Fall zu bringen. Wenn er das Medaillon oder den Brief zeigte, würde man ihn lediglich auslachen oder Peyna wäre gezwungen, etwas zu unternehmen. Und dann würden sie zweifellos beide sterben.
Schließlich verbarg Peter Medaillon und Schreiben wieder dort, wo er sie gefunden hatte. Und dort versteckte er auch sein neunzig Zentimeter langes Seil, für dessen Herstellung er einen Monat gebraucht hatte. Alles in allem war er nicht unzufrieden mit der Arbeit dieses Abends - das Seil hatte gehalten, und dass er das Medaillon und das Schreiben nach über vierhundert Jahren gefunden hatte, machte in jedem Fall eines deutlich: Es schien wenig wahrscheinlich, dass das Versteck leicht gefunden werden würde.
Aber es gab vieles, worüber er nachdenken musste, und in dieser Nacht lag er lange wach.
Als er schlief, war ihm, als hörte er Leven Valeras trockene, brüchige Stimme ihm ins Ohr flüstern: Rache! Rache! Rache!
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Zeit, ja, Zeit - Peter verbrachte eine lange Zeit in der Spitze der Nadel. Sein Bart wuchs lang, ausgenommen dort, wo die weiße Narbe sich wie ein weißer Blitz über seine Wange zog. Während der Bart wuchs, sah er viele Veränderungen durch sein Fenster. Von schrecklicheren Veränderungen hörte er nur. Das Pendel des Henkers schwang nicht seltener, sondern immer häufiger: Verrat-Aufruhr, Verrat-Aufruhr sang es, und manchmal rollten ein halbes Dutzend Köpfe im Verlauf von nur einem einzigen Tag.
Im dritten Jahr von Peters Gefangenschaft, dem Jahr, in dem er erstmals dreißig Klimmzüge hintereinander am Mittelbalken seines Schlafzimmers fertigbrachte, legte Peyna voller Abscheu sein Amt als Oberster Richter nieder. Das war eine Woche lang das Gesprächsthema in den Schänken und Weinstuben, und eine Woche und einen Tag lang das Thema für Peters Wärter. Die Wachmänner waren der Meinung, dass Flagg Peyna ins Gefängnis werfen lassen würde, noch bevor die Richterbank, wo sein Allerwertester sie erwärmt hatte, abgekühlt sein würde, und dass die Bürger von Delain wenig später selbst Gelegenheit haben würden herauszufinden, ob in den Adern des ehemaligen Obersten Richters nun Blut oder Eiswasser floss. Aber da Peyna auf freiem Fuß blieb, verstummte das Gerede bald wieder. Peter war froh, dass Peyna nicht verhaftet worden war.
Er trug ihm nichts nach, wenngleich Peyna sich davon hatte überzeugen lassen, dass er seinen Vater ermordet hatte; und er wusste, dass Flagg alle Beweise eigenhändig arrangiert hatte.
Im dritten Jahr von Peters Gefangenschaft starb Dennis’ guter alter Dad, Brandon. Sein Dahinscheiden war schlicht, aber voller Würde. Trotz großer Schmerzen in der Brust und der Seite hatte er sein Tagwerk beendet und war langsam heimgegangen. Er setzte sich in das kleine Wohnzimmer und hoffte, die Schmerzen würden nachlassen. Stattdessen wurden sie schlimmer. Er bat seine Frau und seinen Sohn an seine Seite, küsste beide und fragte, ob er ein Glas Gin haben könnte. Man brachte
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