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Die Augen des Drachen - Roman

Die Augen des Drachen - Roman

Titel: Die Augen des Drachen - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heyne
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gemacht hatte, jeden Tag sechzig Liegestützen und hundert Rumpfbeugen zu machen, erwachte am nächsten Morgen zu geschwächt, um auch nur das Bett zu verlassen, aber er war wieder bei klarem Verstand.
    Beson und die Unterwachmänner waren enttäuscht. Aber nach dieser Nacht behandelten sie Peter mit einer gewissen Ehrfurcht und achteten darauf, ihm niemals zu nahe zu kommen.
    Was seine Tätigkeit selbstverständlich wesentlich erleichterte.
    Dies alles war leicht zu erzählen, wenngleich es zweifellos besser wäre, wenn ich mit Bestimmtheit sagen könnte, ob der Geist da gewesen ist oder nicht. Aber wie auch bei anderen Ereignissen in dieser Geschichte, müsst ihr euch darüber selbst ein Urteil bilden, finde ich.
    Wie aber soll ich euch von Peters endloser Plackerei an dem winzigen Webstuhl berichten? Das übersteigt meine Kräfte. Er verbrachte unzählige Stunden davor, manchmal gefror ihm der Atem am Mund, manchmal rann ihm der Schweiß in Strömen übers Gesicht. Stets lebte er in der Angst, entdeckt zu werden; all diese langen Stunden allein, und nichts als Gedanken und fast absurde Hoffnungen, um sie auszufüllen. Ich kann euch einiges erzählen, und das werde ich, aber diese Stunden und Tage der langsamen Zeit heraufzubeschwören, das ist mir nicht möglich, und es wäre wahrscheinlich auch keinem anderen möglich, abgesehen von einem der großen Geschichtenerzähler, deren Volk längst ausgestorben ist. Das Einzige, das vielleicht darauf hindeutet, wie
viel Zeit Peter in dem Turm verbrachte, ist sein Bart. Als er kam, war er wenig mehr als ein Schatten auf seinen Wangen und ein Strich unter der Nase - der Bart eines Knaben. In den eintausendachthundertfünfundzwanzig Tagen, die dann folgten, wurde er lang und dicht; am Ende reichte er ihm bis auf die Mitte der Brust, und obwohl er erst zweiundzwanzig Jahre alt war, hatte er graue Strähnen im Bart. Die einzige Stelle, wo er nicht wuchs, war entlang der unregelmäßigen Narbe, die von Besons Fingernagel stammte.
    Im ersten Jahr wagte Peter nicht, mehr als fünf Fäden von jeder Serviette zu nehmen - fünfzehn Fäden pro Tag. Er verwahrte sie unter seiner Matratze, und am Ende einer jeden Woche hatte er hundertundfünf. Nach unseren Maßen war jeder Faden etwa fünfzig Zentimeter lang.
    Die ersten wob er eine Woche, nachdem er das Puppenhaus bekommen hatte, wobei er behutsam mit dem Webstuhl arbeitete. Ihn zu benutzen fiel ihm mit siebzehn nicht mehr so leicht wie mit fünf. Seine Finger waren gewachsen; der Webstuhl nicht. Zudem war er schrecklich nervös. Wenn einer der Wachmänner ihn bei seiner Tätigkeit erwischte, konnte er sagen, er wob aus Spaß Fäden der alten Servietten zu Schnüren zusammen, um sich die Zeit zu vertreiben … wenn sie ihm glaubten. Und wenn der Webstuhl funktionierte. Er glaubte erst daran, als er die erste perfekt gewobene Kordel aus dem Webstuhl herauskommen sah. Als Peter das sah, ließ seine Nervosität ein wenig nach, und er konnte nun ein wenig schneller weben; er führte die Fäden vorsichtig ein, hielt sie fest, damit sie straff blieben, und bediente das Fußpedal mit dem Daumen. Der Webstuhl quietschte
anfangs ein wenig, doch bald löste sich die verhärtete Schmiere, und er funktionierte wieder so reibungslos wie in seiner Kindheit.
    Aber die Kordel war schrecklich dünn, nicht einmal fünf Millimeter im Durchmesser. Peter machte zwei Knoten in die Enden und zog versuchsweise daran. Sie hielt. Das ermutigte ihn ein wenig. Die Kordel war kräftiger, als sie aussah, und er dachte, dass sie auch kräftig sein musste. Schließlich waren es königliche Servietten, aus der besten Baumwolle des Landes gewoben, und er hatte straff gewoben. Er zog stärker und versuchte abzuschätzen, wie viel Pfund Belastung er dem winzigen Baumwollfaden zumutete.
    Er zog noch stärker, die Kordel hielt, und er spürte, wie Hoffnung sein Herz erfüllte. Er musste an Yosef denken.
    Yosef, der Stallmeister, war es gewesen, der ihm den Begriff »Bruchbelastung« erklärt hatte. Es war Hochsommer gewesen, und sie hatten riesige anduanische Ochsen beobachtet, die Steinblöcke zum Platz des neuen Marktes schleppten. Ein schwitzender, fluchender Lenker saß im Nacken eines jeden Ochsen. Peter war damals gerade elf gewesen, und das Ganze gefiel ihm besser als der Zirkus. Yosef wies ihn darauf hin, dass jeder Ochse einen schweren Lederharnisch anhatte. Die Ketten, mit denen die beschlagenen Steinquader gezogen wurden, befanden sich rechts und links vom

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