Die Augen des Drachen - Roman
es ihm. Er trank es, küsste seine Frau noch einmal und schickte sie aus dem Zimmer.
»Du musst deinem Herrn nun rechtschaffen dienen, Dennis«, sagte er. »Du bist jetzt ein Mann, und du hast die Aufgaben eines Mannes.«
»Ich werde dem König dienen, so gut ich kann, Dad«, erwiderte Dennis, wenngleich ihn der Gedanke, nun die Pflichten seines Vaters übernehmen zu müssen, entsetzte. Tränen benetzten sein gutmütiges, schlichtes Gesicht. In den vergangenen drei Jahren hatten Brandon und Dennis Thomas gedient, und Dennis’ Pflichten waren praktisch dieselben gewesen wie bei Peter; trotzdem war es irgendwie nie dasselbe gewesen, nein, nicht im Entferntesten dasselbe.
»Thomas, aye«, sagte Brandon, und dann flüsterte er: »Aber wenn die Zeit kommt, deinem ersten Herrn einen Dienst zu erweisen, Dennis, dann darfst du nicht zögern. Ich habe nie...«
In diesem Augenblick griff sich Brandon an die linke
Seite der Brust, erstarrte und starb. Er starb genau dort, wo er immer hatte sterben wollen, in seinem eigenen Sessel vor seinem eigenen Kaminfeuer.
Im vierten Jahr von Peters Gefangenschaft - das Seil unter den Steinen wurde länger und länger - verschwand die Familie Staad. Die Krone brachte sich in den Besitz des letzten bescheidenen Restes ihres Landes, wie schon früher, wenn andere adlige Familien verschwunden waren. Und je länger Thomas’ Herrschaft andauerte, desto mehr verschwanden.
Die Staads waren nur ein Thema in den Schänken in einer Woche, in der vier Enthauptungen stattgefunden hatten, die Abgabe für Ladenbesitzer erhöht worden war und man eine alte Frau festgenommen hatte, die drei Tage lang vor dem Palast auf und ab ging und dabei schrie, man habe ihren Sohn verhaftet, weil er sich gegen die Rinderabgabe des letzten Jahres ausgesprochen hatte. Aber als Peter den Namen Staad in den Unterhaltungen der Wachmänner vernahm, setzte sein Herzschlag einen Augenblick lang aus.
Die Kette von Ereignissen, die zum Verschwinden der Familie Staad geführt hatte, war in Delain mittlerweile hinreichend bekannt. Der tickende Pendelschlag der Henkersaxt hatte die Reihen der Adeligen in Delain schrecklich dezimiert. Viele Adlige starben, weil ihre Familien dem Königreich Hunderte - oder Tausende - Jahre treu gedient hatten und sie sich nicht vorstellen konnten, dass auch ihnen ein so ungerechtes Schicksal widerfahren würde oder auch nur könnte. Andere, die die Blutschrift an der Wand lesen konnten, flohen. Zu ihnen gehörten die Staads.
Und das Tuscheln begann.
Hinter vorgehaltenen Händen wurden Geschichten erzählt, Geschichten, die andeuteten, dass diese Adligen nicht einfach nur in alle vier Winde zerstreut worden waren, sondern dass sie sich irgendwo sammelten, vielleicht in den tiefen Wäldern im Norden des Königreichs, um dort den Sturz des Königs vorzubereiten.
Diese Geschichten kamen zu Peter wie der Wind durch sein Fenster und der Durchzug unter seiner Tür … Es waren Träume aus einer größeren Welt. Er arbeitete fast die ganze Zeit an seinem Seil. Im ersten Jahr wuchs das Seil alle drei Wochen um fünfundvierzig Zentimeter. Am Ende dieses Jahres hatte er ein dünnes Kabel, das siebeneinhalb Meter lang war - ein Seil, das sein Gewicht zumindest theoretisch tragen konnte. Aber es war ein Unterschied, ob er an einem Balken in seinem Schlafzimmer hing, oder über einem hundert Meter tiefen Abgrund, und das wusste Peter genau. Sein Leben würde buchstäblich an einem dünnen Faden hängen.
Und siebeneinhalb Meter pro Jahr, das genügte vielleicht nicht; es würde über acht Jahre dauern, bevor er auch nur an einen Versuch denken konnte, und die Gerüchte, die er aus zweiter Hand vernahm, waren laut genug geworden um ihn zu beunruhigen. Vor allem musste das Königreich fortbestehen - es durfte keinen Aufstand, kein Chaos geben. Unrecht musste gesühnt werden, aber durch das Gesetz, nicht mit Bogen und Schlingen und Keulen und Knüppeln. Thomas, Leven Valera, Roland, er selbst, sogar Flagg verblassten daneben zur Bedeutungslosigkeit. Das Gesetz musste erhalten bleiben.
Wie Anders Peyna, der vor seinem Kamin alt und verbittert wurde, ihn dieser Gedanken wegen geliebt hätte!
Peter beschloss, dass er seinen Fluchtversuch so bald wie möglich unternehmen musste. Dazu stellte er lange Berechnungen an, nur im Kopf, um keinerlei Spuren zu hinterlassen. Er rechnete immer wieder nach, um sich sicher zu sein, dass er keinen Fehler gemacht hatte.
Im zweiten Jahr seiner Gefangenschaft begann
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