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Die Augen des Drachen - Roman

Die Augen des Drachen - Roman

Titel: Die Augen des Drachen - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heyne
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Nadel brachte, komplett abgetan. Dennis war für ihn nichts weiter als ein Werkzeug gewesen - ein Werkzeug, das seinen Zweck erfüllt hatte und beiseitegelegt werden konnte. Hätte er über ihn nachgedacht, so wäre er vermutlich zu dem Schluss gekommen, dass dem Werkzeug eine angemessene Belohnung zuteil geworden war: Immerhin war Dennis der Kammerdiener des Königs.
    Aber in einer frühen Winternacht des Jahres, als Peter einundzwanzig und Thomas sechzehn war, in einer Nacht, da sich Peters dünnes Seil schließlich der Vollendung näherte, da sah Dennis etwas, was alles veränderte - und mit dem, was Dennis sah, muss ich beginnen, die letzten Kapitel meiner Geschichte zu erzählen.

77
    Es war eine Nacht nicht unähnlich denen in jener schrecklichen Zeit kurz vor und nach Rolands Tod. Der Wind heulte von einem schwarzen Himmel herunter und pfiff durch die Straßen von Delain. Dicker Raureif lag auf den Wiesen der Inneren Baronien und dem Kopfsteinpflaster der Hauptstadt. Zunächst war immer wieder ein Dreiviertelmond zwischen dahinziehenden Wolkenfetzen zu sehen, aber gegen Mitternacht waren die Wolken so dicht, dass der Mond völlig verdeckt war, und gegen zwei Uhr morgens, als Thomas Dennis aufweckte, indem er an dem Riegel der Tür zwischen seinem Wohnzimmer und dem Flur rüttelte, hatte es zu schneien begonnen.
    Dennis vernahm das Rütteln und richtete sich auf. Er verzog das Gesicht, weil sein Rücken steif geworden und seine Arme und Beine eingeschlafen waren. Heute Nacht war Thomas auf dem Sofa eingeschlafen, anstatt zu seinem Bett zu schlurfen, daher musste der junge Kammerdiener wieder einmal auf dem Ofen nächtigen. Nun war das Feuer beinahe aus. Die Seite von ihm, die dem Feuer zugewandt gewesen war, fühlte sich wie geröstet an, die andere erfroren.
    Er sah nach der Ursache des Rüttelns … und einen Augenblick ließ das Entsetzen sein Herz und seine Eingeweide erstarren. Diesen einen Augenblick lang dachte er, es stünde ein Geist an der Tür, und er hätte fast
geschrien. Dann sah er, dass es nur Thomas in seinem weißen Nachtgewand war.
    »M-mein Lord König?«
    Thomas achtete nicht auf ihn. Seine Augen waren offen, aber sie sahen den Riegel nicht; sie waren groß und rund und verträumt und starrten ins Nichts. Dennis erriet plötzlich, dass der junge König schlafwandelte.
    Gerade als Dennis das klar wurde, schien Thomas aufzugehen, dass sich der Riegel nicht zurückschieben ließ, weil der Bolzen noch darinsteckte. Er zog ihn heraus und trat dann auf den Flur hinaus, und in dem flackernden Fackelschein sah er noch geisterhafter aus. Sein Nachtgewand bauschte sich kurz auf, und dann war er auf bloßen Füßen verschwunden.
    Dennis saß einen Augenblick mit überkreuzten Beinen stockstill auf dem Herd, die eingeschlafenen Gliedmaßen waren vergessen, sein Herz pochte. Draußen schleuderte der Wind Schnee gegen die rautenförmigen Scheiben des Wohnzimmerfensters und stieß einen langen Banshee-Ruf aus. Was sollte er tun?
    Natürlich blieb ihm keine Wahl - der junge König war sein Herr. Er musste ihm folgen.
    Vielleicht war es die wilde Nacht, die Roland so lebhaft in Thomas’ Gedächtnis zurückgerufen hatte, aber nicht notwendigerweise; eigentlich dachte Thomas sehr oft an seinen Vater. Schuld ist wie eine wunde Stelle: Sie kann ungeheuer faszinierend sein, und der Schuldige muss sie immer wieder untersuchen und betasten, so dass sie niemals richtig heilt. Thomas hatte weit weniger getrunken als üblich, aber seltsamerweise war er Dennis betrunkener denn je vorgekommen. Seine Sprechweise war abgehackt und unverständlich gewesen, die
Augen zu weit aufgerissen, zu viel Weiß war darin zu sehen gewesen.
    Das kam zum größten Teil daher, dass Flagg nicht da war. Man hatte Gerüchte vernommen, dass die abtrünnigen Adligen - unter ihnen die Staads - sich in den Weiten Wäldern im äußersten Norden des Königreichs sammelten. Flagg führte ein Regiment zäher, kampferprobter Soldaten bei der Suche nach ihnen an. Wenn Flagg nicht da war, war Thomas immer besonders nervös. Er wusste, er war völlig von dem dunklen Zauberer abhängig geworden … aber er war von Flagg auf eine Art und Weise abhängig, die er nicht völlig begriff. Zu viel Wein war nicht mehr Thomas’ einziges Laster. Denen, die Geheimnisse haben, verweigert sich oft der Schlaf, und Thomas litt unter schwerer Schlaflosigkeit. Ohne es zu wissen war er von Flaggs Schlafmitteln abhängig geworden. Flagg hatte Thomas einen Vorrat der

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