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Die Augen des Drachen - Roman

Die Augen des Drachen - Roman

Titel: Die Augen des Drachen - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heyne
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Droge zurückgelassen, als er die Soldaten nach Norden führte, aber Flagg hatte damit gerechnet, nur drei Tage unterwegs zu sein, im äußersten Fall vier. In den vergangenen drei Nächten hatte Thomas schlecht oder gar nicht geschlafen. Er fühlte sich seltsam, nie richtig wach, nie richtig schlafend. Gedanken an seinen Vater verfolgten ihn. Er schien die Stimme seines Vaters im Wind zu hören, die ihm zurief: Warum starrst du mich an? Warum starrst du mich so an? Visionen von Wein … Visionen von finsterer Freude auf Flaggs Gesicht … Visionen vom Haar seines Vaters, das Feuer fing … all das raubte ihm den Schlaf und ließ ihn mit weit aufgerissenen Augen in die langen Stunden der Nacht starren, während alle anderen im Schloss schliefen.
    Als Flagg in der achten Nacht immer noch nicht zurück
war (er und seine Soldaten hatten fünfzig Meilen vom Schloss entfernt ihr Lager aufgeschlagen, und Flagg war äußerst übler Laune; die einzigen Spuren der Adligen, die sie gefunden hatten, waren gefrorene Hufspuren, und die konnten Tage oder sogar Wochen alt sein), schickte Thomas nach Dennis. Später in dieser Nacht, der achten Nacht, stand Thomas vom Sofa auf und begann zu schlafwandeln.

78
    Dennis folgte also seinem Herrn und Meister, dem König, die langen, zugigen Steinkorridore hinab, und wenn ihr bisher aufgepasst habt, dann werdet ihr sicher erraten, wohin Thomas der Lichtbringer ging.
    Die späte stürmische Nacht war einem frühen stürmischen Morgen gewichen. Niemand war auf den Fluren unterwegs - wenigstens sah Dennis niemanden. Wäre jemand unterwegs gewesen, so hätte es durchaus geschehen können, dass er oder sie in die andere Richtung geflohen wäre und dabei vielleicht sogar geschrien hätte, weil er oder sie glaubte, zwei Geister durch die Flure wandeln zu sehen, einer voraus in einem langen weißen Gewand, welches man mühelos für ein Leichentuch halten konnte, der andere in einem schlichten Wams, aber barfuß und mit einem so blassen Gesicht, dass man es für das einer Leiche hätte halten können. Ja, ich glaube, jeder, der sie gesehen hätte, wäre geflohen und hätte vor dem Einschlafen lange Gebete gesprochen … und selbst die vielen Gebete hätten die Albträume vielleicht nicht verhindern können.
    In der Mitte eines Gangs, in dem Dennis selten gewesen war, hielt Thomas plötzlich an und öffnete eine zurückversetzte Tür, die Dennis noch nie so richtig aufgefallen war. Der junge König betrat einen weiteren Flur (kein Zimmermädchen kam mit einem Arm voll Laken an ihnen vorbei wie damals, als Flagg den Prinzen Thomas
hierher geführt hatte; alle anständigen Zimmermädchen lagen längst in ihren Betten); auf halber Länge blieb Thomas so unvermittelt stehen, dass Dennis fast mit ihm zusammengestoßen wäre.
    Thomas sah sich um, als ob er schaute, ob ihm jemand gefolgt war, und seine träumenden Augen sahen direkt durch Dennis hindurch. Dennis bekam eine Gänsehaut, und er musste sich sehr zusammennehmen, um nicht lauthals zu schreien. Die Fackeln in diesem fast vergessenen Flur flackerten und stanken fürchterlich nach Öl; das Licht war schwach und unheimlich. Der junge Diener konnte spüren, wie sich sein Nackenhaar büschelweise aufrichtete, als diese toten Augen über ihn hinwegglitten - Augen gleich toten Lampen, welche lediglich der Mond erhellte.
    Er stand hier, direkt hier, aber Thomas sah ihn nicht; für Thomas war sein Diener undeutlich.
    Oh, ich muss weglaufen, flüsterte ein Teil von Dennis’ Verstand zerfahren - aber in seinem Kopf hörte sich dieses kleine fahrige Flüstern wie ein Schrei an. Oh, ich muss weglaufen, er ist tot, er ist im Schlaf gestorben, und ich folge einem wandelnden Leichnam! Aber dann hörte er die Stimme seines Vaters, seines geliebten Vaters flüstern: Aber wenn die Zeit kommt, deinem ersten Herrn einen Dienst zu erweisen, Dennis, dann darfst du nicht zögern.
    Eine Stimme, die tiefer als die beiden anderen war, verriet ihm, dass dieser Zeitpunkt jetzt gekommen war. Und Dennis, ein kleiner Dienerjunge, der einmal ein Königreich verändert hatte, als er eine brennende Maus fand, veränderte es nun vielleicht ein zweites Mal, indem er auf seinem Platz blieb, obwohl das Entsetzen
seine Knochen erstarren ließ und ihm das Herz in den Hals trieb.
    Mit einer seltsam tiefen Stimme, die ganz und gar nicht wie seine übliche Stimme klang (aber Dennis kam die Stimme vage bekannt vor), sagte Thomas: »Der vierte Stein über dem beschädigten ganz unten.

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