Die Augen des Drachen - Roman
um nicht selbst zu schreien. Und nun hatte er den Eindruck, als wäre dieser seltsame Gang von Geistern erfüllt, Geistern gleich seltsam flügelschlagenden Fledermäusen, die sich jeden Augenblick in seinem Haar verfangen konnten; o ja, Dennis hatte den Eindruck, als wäre der Gang voll unruhiger Untoter, und vielleicht war es so, vielleicht war es so.
Er wäre beinahe in Ohnmacht gefallen … beinahe … aber nicht ganz.
Irgendwo unter ihm hörte er Hunde bellen und erkannte, dass sie sich über den Hundezwingern des alten Königs befinden mussten. Die wenigen von Rolands Hunden, die noch lebten, waren nicht wieder nach draußen umgesiedelt worden. Sie waren die einzigen lebenden Wesen - mit Ausnahme von Dennis selbst -, die dieses wilde Kreischen gehört hatten. Aber die Hunde waren real, keine Geister, und Dennis hielt sich an diesem Gedanken fest, wie ein Ertrinkender sich an einen schwimmenden Mast klammern mochte.
Einen Moment oder zwei später bemerkte er, dass Thomas nicht nur kreischte - er gab dabei Wörter von sich. Zunächst konnte Dennis nur einen einzigen Satz verstehen, den Thomas immer wieder wiederholte: »Trink den Wein nicht! Trink den Wein nicht! Trink den Wein nicht!«
81
Drei Nächte später klopfte es leise an die geschlossene Wohnzimmertür eines Bauernhofes in einer der Inneren Baronien, der ganz in der Nähe des Hofes lag, auf dem die Familie Staad bis vor Kurzem gelebt hatte.
»Herein!«, knurrte Anders Peyna. »Und ich hoffe, du hast einen verdammt guten Grund, Arlen.«
Arlen war in den Jahren, die vergangen waren, seit Beson mit Peters Nachricht an Peynas Tür erschienen war, gealtert. Die Veränderungen, die er durchgemacht hatte, waren jedoch nichts im Vergleich dazu, wie sich Peyna verändert hatte. Das Haar des früheren Obersten Richters war fast völlig ausgefallen. Einst war er schlank gewesen, nun wirkte er ausgezehrt. Am meisten verändert aber hatte sich der Ausdruck in seinem Gesicht. Einst hatten seine Züge streng gewirkt, nun aber wirkten sie hart. Dunkelbraune Ringe lagen unter seinen Augen. Die Verzweiflung hatte sich in sein Gesicht eingeprägt, und dafür gab es gute Gründe. Er hatte gesehen, wie die Dinge, die er sein ganzes Leben lang verteidigt hatte, ruiniert wurden … und dieser Ruin war erschreckend schnell vonstattengegangen und in erschreckend kurzer Zeit. Oh, ich vermute, dass alle intelligenten Menschen wissen, wie zerbrechlich Dinge wie Recht, Gerechtigkeit und Zivilisation tatsächlich sind, aber sie denken nicht gern darüber nach, weil solche Gedanken ihnen den Schlaf rauben und den Appetit verderben.
Es war schlimm genug für Peyna, dass er zusehen musste, wie sein Lebenswerk in sich zusammenfiel wie der Bauklötzchenturm eines Kindes, aber es gab noch eine andere Sache, die ihn in den letzten vier Jahren nicht losgelassen hatte, eine viel schlimmere Sache. Er wusste, dass Flagg die finsteren Veränderungen in Delain nicht allein bewerkstelligt hatte. Peyna hatte ihm dabei geholfen. Wer sonst hatte dafür gesorgt, dass Peter ein Prozess gemacht wurde, der vielleicht zu kurz war? Wer sonst war so überzeugt von Peters Schuld gewesen … und das nicht etwa aufgrund der Beweislage, sondern nur wegen der erschrockenen Tränen eines Knaben?
Seit dem Tag, an dem Peter in die Spitze der Nadel gebracht worden war, hatte sich die Hinrichtungsstätte auf dem Platz bedrohlich rostrot gefärbt. Nicht einmal der stärkste Regen vermochte noch, sie reinzuwaschen. Und Peyna glaubte, er könne sehen, wie sich dieser unheimliche rote Fleck ausbreitete - sich vom Henkersblock aus verbreitete und den Platz der Nadel, die Straßen des Marktes und die Gassen bedeckte. In seinen unruhigen Träumen sah Peyna Rinnsale von Blut, die sich in leuchtenden, anklagenden Fäden zwischen den Pflastersteinen hindurchschlängelten und in dünnen Strömen in die Abflüsse ergossen. Er sah die Lünetten des Schlosses von Delain blutig in der Sonne leuchten. Er sah die Karpfen im Burggraben mit den Bäuchen nach oben im Wasser treiben, vergiftet von dem Blut, das in Fluten aus der Kanalisation strömte und in Quellen aus der Erde selbst sprudelte. Er sah, wie das Blut überall anstieg und die Felder und Wälder rot färbte. In seinen unglücklichen Träumen sah selbst die Sonne aus wie ein blutunterlaufenes sterbendes Auge.
Flagg hatte ihn leben lassen. In den Schänken flüsterte man hinter vorgehaltener Hand, dass er ein Abkommen mit Flagg geschlossen hatte - dass der
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