Die Augen Rasputins
derartigen Ausdrücken zu titulieren. Vielleicht war es anfangs nur Ohnmacht gewesen. Anfangs hatte er nicht viel für Patrizia tun können, im Grunde nichts weiter, als in ihrem Tagebuch zu lesen. Und während er las, dachte er zwangsläufig darüber nach, was aus ihr hätte werden können, wäre sie nur dem richtigen Mann begegnet. Keinem Jungen, der altersmäßig zu ihr paßte – mit so einem wäre aus ihr eines Tages nur eine normale, durchschnittliche Ehefrau ohne besondere Ambitionen geworden, eine graue Maus –, sondern einem Mann mit Erfahrung und einer gewissen Reife, einem an den sie sich anlehnen konnte, der ihr Sicherheit gab. Einem, der ihr erlaubte, ihre Phantasien auszuleben und ihre Hingabefähigkeit. Und während Ed darüber nachdachte, sah er sie unentwegt vor sich. Ein lebloses Bündel auf der Kante eines Sessels, gerade siebzehn geworden und schon völlig ohne Perspektive. Keine Kraft mehr, keinen Lebenswillen, nicht einmal mehr ein Ohr, um dem Mann, der ihr zu helfen versuchte, zuzuhören. Sechs Stunden, es war ein Witz. Ed glaubte nicht daran, daß er es schaffte, sie in diesen sechs Stunden zu irgendeiner Reaktion veranlassen zu können. Im Geist sah er sie bereits in der geschlossenen Abteilung einer Klinik. Und er sagte sich, daß der Mann, der ihr das angetan hatte, gar nichts anderes sein konnte, als ein Scheusal, ein gewissenloser Dreckskerl. Ihre Eintragungen sprachen allerdings dagegen.
»Ich habe heute einen wundervollen Mann kennengelernt «, schrieb Patrizia unter dem Datum eines Maisonntags.
»Wir haben uns den ganzen Abend so gut unterhalten. Mit ihm konnte ich reden, wie sonst mit keinem Menschen. Er verstand einfach alles. Er hat mich die ganze Zeit angeschaut… «
Und eine Cola hatte er ihr spendiert, ein paarmal mit ihr getanzt. Später hatte Schramm sie heimgefahren und sie im Wagen vor der Haustür geküßt. Ganz sanft, schrieb sie, nur mit den Lippen, es war so weich, es war traumhaft. Natürlich hatte er sie auch um ein Wiedersehen gebeten. Und ihr schmeichelte es offensichtlich, daß sie einen erwachsenen Mann – Schramm war sieben Jahre älter als sie – dermaßen für sich eingenommen hatte. Alles noch im Rahmen des Üblichen, fand Ed. Und dann machte ihr Vater einen entscheidenden Fehler. Er hatte vom Fenster aus beobachtet, daß seine Tochter aus einem Auto gestiegen war und erkundigte sich eingehend nach dem Fahrer. Seine Älteste, Dorothea, hatte ihn und seine Frau ein paar Jahre zuvor mit einer Schwangerschaft überrascht. Und mit der Tatsache, daß sie den Vater ihres Kindes auf keinen Fall heiraten wollte, weil sie inzwischen festgestellt hatte, daß er nicht der Richtige war. Seitdem war Paul Großmann der Meinung, daß man den Kindern nicht jede Freiheit lassen durfte und ein wachsames Auge auf ihre Bekanntschaften haben sollte. Und was ihm Patrizia über diesen ›Freund‹ berichtete, paßte ihm ganz und gar nicht. Mochte er hundertmal ein netter und verständnisvoller Mensch sein, dieser Heiko Schramm, mit dreiundzwanzig war er entschieden zu alt für das Nesthäkchen. Da konnte man sich doch an zwei Fingern ausrechnen, wann der zur Sache kam. Also verbot Paul Großmann seiner Jüngsten den weiteren Umgang mit Schramm. Um diesem Verbot auch den gehörigen Nachdruck zu verleihen, sprach er vorbeugend drei Wochen Hausarrest aus. Alles durchaus verständlich. Paul Großmann war ein kleiner Tyrann, der uneingeschränkte Herrscher über sein Reich und seine Untertanen. Er liebte Patrizia abgöttisch, wachte über sie und ihr Wohlergehen mit kleinlicher Eifersucht, erwartete unbedingten Gehorsam und eine bedingungslose Liebe. Von seiner Sorte gab es viele, und keiner von ihnen hätte jemals einsehen wollen, daß seine Bemühungen zwangsläufig im Gegenteil enden. Meist hielten sich ja auch die Schäden, die sie damit anrichteten, in Grenzen. Jedoch nicht immer, Patrizias Tagebuch war der beste Beweis dafür. Es hatte alles genau den Verlauf genommen, den man in solch einem Fall erwarten konnte. Auf die anfängliche Verliebtheit folgte die Trotzreaktion. Unter dem Datum des folgenden Maisonntags stand:
Mein liebster Heiko, die ganze Woche frage ich mich schon, ob Du mich noch magst, wenn ich erst in zwei Wochen wieder bei Dir sein darf. Ich habe Dorothea gefragt, ob sie Dir nicht wenigstens Bescheid sagen kann. Aber sie hat heute keine Zeit. Jetzt wartest Du bestimmt auf mich, und wenn Du merkst, daß ich nicht komme, bist Du sicher enttäuscht. Aber ich
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