Die Augen Rasputins
dieser unbändigen Kraft, mit dem Wissen, daß er immer noch dort unten stand, daß er seine Hände quer über die Straße zu ihr hinaufschicken konnte. Und seinen Mund und sich selbst. Es war kein mangelndes Interesse, es war die einzige Möglichkeit gewesen, anfangs jedenfalls. Und sie hatten ja auch später kaum Zeit miteinander verbringen können, niemals Zeit genug, um eine dieser perfekten Vorstellungen Wirklichkeit werden zu lassen. Nachdem sie ihm erst erklärt hatte, wie ihr Vater auf ihn reagierte, hatte er sie keinen weiteren Repressalien aussetzen wollen.
»Ich will nicht, daß du wegen mir Ärger kriegst, Püppi. Sei ehrlich, mir kannst du es doch sagen, er verprügelt dich, nicht wahr? Du mußt es gar nicht sagen, ich weiß es auch so. Ich kenne diese Typen. Die sind nicht in der Lage, vernünftig mit einem Menschen zu reden. Die schlagen immer gleich zu. Und sie können nichts gelten lassen, was ihnen nicht in den Kram paßt. Weißt du, was ich am liebsten tun würde? Aber das hilft uns nichts, es würde für dich nur alles noch schlimmer machen. Mein armer Schatz! Am besten ist es wohl, wenn ich mich da nicht mehr blicken lasse. Wenn er mich nicht mehr zu Gesicht bekommt, glaubt er vielleicht, daß du mich nicht mehr siehst. Dann läßt er dich auch sonntags wieder mal raus. Vielleicht kannst du sogar mal auf mich schimpfen, hm? Versuch es doch! Sag ihm, du hättest mit so einem wie mir gar nichts mehr am Hut. Vielleicht haben wir Glück, und er glaubt dir das. «
Er war immer so verständnisvoll und so voller Rücksicht gewesen. Und er hatte genau gewußt, wie man einen jähzornigen Vater beschwichtigte und in Sicherheit wiegte. An der Bushaltestelle in der Nähe von Retlings Haus hatte er auf sie gewartet. Dort waren es ein paar Minuten. Beide Arme um seine Taille und den Kopf weit zurückgelegt, hatte sie in seine Augen geschaut. Bis der Bus kam. Dann die Fahrt. Auf einer der letzten Bänke saß sie neben ihm, an ihn gedrückt, seinen Arm im Nacken, seine Hand auf dem Oberarm, die andere Hand auf einem Schenkel, wo sie kaum merklich auf und ab strich. Manchmal nur ein Stehplatz, eingezwängt in einen Haufen anderer Menschen. Mit beiden Armen hielt sie sich an ihm fest, das Gesicht gegen seine Brust gedrückt. So dicht bei ihm, ihn riechen, immer den gleichen herben Geruch von Leder und seinem Rasierwasser. Ihn fühlen, den Herzschlag und die Wärme durch den Stoff seines schwarzen Hemdes. Sein Flüstern hören, die Beschwörungsformel für die Nacht, all das, was er sich ausmalen würde, mit ihr zu tun. Er nannte ihr sogar die Uhrzeit, zu der er mit seinen Vorstellungen beginnen wollte, damit sie zur gleichen Zeit das Gleiche dachten. Das war eine Form von Nähe, die man niemandem verständlich machen konnte, auch Ed nicht. Und er hatte immer gesagt:
»Eines Tages, Püppi, wenn wir viel Zeit haben und ein großes Haus, wo uns keiner stört, ein breites Bett, so eins mit einem Radio im Kopfteil, dann tun wir es richtig. Dann tun wir es die ganze Nacht, wir hören Musik dabei, trinken Sekt, nein, Champagner. Und wir bewegen uns ganz langsam, bis wir denken, daß wir verrückt werden. «
Aber dann hatten sie ihn verhaftet und eingesperrt, und darüber war sie fast verrückt geworden. Was er getan hatte, war nicht richtig gewesen. Aber er hatte es doch nur für sie getan. Und ihn bestraften sie dafür. Mit einer so entsetzlich langen Zeit, sieben Jahre. Eines Tages, Püppi! Wenn wir viel Zeit haben! Es war gerade halb zehn vorbei. Eddi würde erst kurz nach fünf heimkommen. Eddi war plötzlich so unerreichbar, wie in einer anderen Dimension. In der vierten! Die Zeit war die vierte Dimension. Mehr als sieben Stunden waren sie jetzt auseinander, Eddi und sie selbst. War das genug Zeit für Heiko? Und ein großes Haus, wo uns keiner stört, ein breites Bett mit einem Radio im Kopfteil! Solch ein Bett stand oben. Und im Keller war auch Champagner. Dann tun wir es richtig! War er deshalb hier? Ed würde das nicht glauben, nicht eine Sekunde lang. Sie glaubte es schon, fühlte das Herz flattern und das Blut rauschen, fühlte die Schwäche in den Beinen. Und eine Art Krampf, tief im Innern zogen sich ein paar Muskeln zusammen. Vielleicht würde Ed eher annehmen, daß Heiko gekommen war, um sie zu töten. Weil sie nicht auf ihn gewartet hatte, weil Männer wie er es nicht vertrugen, wenn andere ihnen vorgezogen wurden, weil sie sich für einmalig hielten. Aber er war nicht gekommen, um sie zu
Weitere Kostenlose Bücher