Die Augen Rasputins
Ausbund an Rücksichtnahme und phantasievoller Hinwendung, jede Sekunde des Zusammenseins voll ausschöpfend. Ein wahrer Romeo, der sich auch in windigen Regennächten unter ihrem Fenster die Beine in den Bauch stand. Fehlte nur die Laute. Selbst wenn man gewaltige Abstriche machte und sich vor Augen hielt, daß ein Großteil der Eintragungen reine Phantasie war, blieb immer noch genug übrig für das Bild eines Mannes, der sich der Verantwortung gegenüber einem jungen Mädchen bewußt war. Der vielleicht tatsächlich nur von einer gemeinsamen Zukunft träumte, verzweifelt darüber nachsann, wie er seinen Traum realisieren konnte. Und bei der Verwirklichung war er dann gestrauchelt. Er hatte es Seite um Seite gelesen, sich unwillkürlich gefragt, was Schramm dazu bewogen haben mochte, sich derart an dieses Mädchen zu klammern. Und in einem stillen Winkel auf der privaten Seite des Hirns fragte Ed sich auch, wieviel Wert er selbst noch darauf legte, einen Abend mit seiner Verlobten zu verbringen. Und sie mit ihm! Nicht sehr viel. Dabei verstanden sie sich eigentlich ganz gut, im Bett jedenfalls. Ansonsten durfte man von einer langjährigen Beziehung wohl kein Herzklopfen und auch sonst keine romantischen Anwandlungen mehr erwarten. Aber da war immerhin die gemeinsame Basis des Berufs, zwei Psychologen. Vielleicht war es gar keine Basis, vielleicht war es der Haken an der Sache. Der einzige Grund womöglich, der ihn bisher daran gehindert hatte, sie zu heiraten. Man kannte sich zu gut, man durchschaute sich immer gleich. Da war kein Platz für Illusionen. Und wer brauchte nicht hin und wieder eine? Dieses kleine Mädchen Patrizia hatte von einer Illusion gelebt und ging daran zugrunde, daß man sie zerstörte. Die Frage war, wer sie zerstört hatte. Heiko Schramm? Ed war sich da gar nicht so sicher. Schramm mochte sie enttäuscht haben, doch nicht einmal daran konnte Ed glauben. Er war sicher, daß sie gewußt hatte, wie Schramm seinen recht aufwendigen Lebensstil finanzierte. Es gab da einen Satz in ihrem Tagebuch:
»Er verkauft bunte Träume an Menschen, die darauf angewiesen sind, sich ihre Träume zu kaufen. «
Das war deutlich genug. Gewußt und akzeptiert hatte sie es. Der Feind in ihrer Familie hieß wohl eher Paul Großmann. Ein liebender und besorgter Vater, der für sein Kind nur das Beste wollte. Und wenn sich das mit Güte nicht erreichen ließ, dann eben mit Nachdruck. Auch Ed gegenüber. Paul hatte keinen Zweifel daran gelassen, was er für sein Geld erwartete: Schnelle Hilfe, kein Herumgeplänkel. Eine Tochter, die wieder unterscheiden konnte zwischen Schwarz und Weiß. Grautöne gab es für Paul Großmann nicht. Als er Patrizia nach der zweiten Stunde abholte, in der Ed nicht einen Schritt weitergekommen war – kein Zugang zur Patientin –, erkundigte sich Paul Großmann mit hörbarer Erwartung in der Stimme:
»Und, Doktor? «
Kein Und! Angestarrt hatte sie ihn, hin und wieder geblinzelt, während er über Liebe, Enttäuschung, Schmerz, Einsamkeit und Verzweiflung sprach. Und dann sprach er mit Paul Großmann noch einmal über die Aussichtslosigkeit dieses Versuchs. Zwei Stunden oder sechs oder sechzig, es war sinnlos. Es gab einfach keine Erklärung für ihren besorgniserregenden Zustand. Und allein ihre körperliche Verfassung verbot jedes Herumexperimentieren.
»Ich glaube nicht, daß ich Ihrer Tochter helfen kann «, hatte Ed gestanden.
»Ich weiß nicht einmal, ob sie mich hört. «
Paul preßte für einen Augenblick die Lippen aufeinander, atmete hörbar aus.
»Sie hört Sie bestimmt, Doktor. Taub ist sie ja nicht. Und es muß doch eine Möglichkeit geben, ihr klarzumachen, daß dieser Kerl ein Schwein ist. «
»Ich nehme an, das hat sie von Ihnen bereits oft genug gehört «, erwiderte Ed ein wenig heftiger als beabsichtigt.
»Aber sie sieht ihn nicht so. Das kann man auch nicht erwarten. Sie ist siebzehn. Da ist manches romantisch verklärt. Ihre Tochter wußte, womit er sein Geld verdient. Sie hat ihn nicht dafür verurteilt. Daß ihn ein Richter dafür verurteilte, kann sie nicht so schwer getroffen haben. «
Paul schwieg. Es sah fast so aus, als wartete er darauf, daß Ed weitersprach. Als das nicht geschah, murmelte er nach etlichen Sekunden:
»Dafür ist er ja auch nicht verurteilt worden. «
Ed war im ersten Augenblick viel zu überrascht, um darauf zu antworten oder nachzufragen. Er spürte Wut in sich aufsteigen. Wut auf Paul, was bildete der sich ein? Es
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