Die Augen Rasputins
das Gehirn vernebeln konnte. Sie war eine erwachsene Frau, die gelernt hatte, die damaligen Verhältnisse mit den Augen der Vernunft zu betrachten, hauptsächlich mit Eds Augen. Die ein bestimmtes Kapitel ihres Lebens am liebsten ungeschrieben gemacht hätte. Die mit einem Mann verheiratet war, glücklich verheiratet, den sie liebte, von dem sie geliebt wurde, der ihr ein angenehmes und sorgenfreies Leben bieten konnte, der… Es war nicht viel Bargeld im Haus gewesen. Und Patrizias Schmuck… Edmund rannte quer durch die Diele in sein Arbeitszimmer. Die kleine Stahlkassette stand in einem Schubfach des Schreibtischs, war mit dem Boden des Fachs verschraubt. Den Schlüssel der Kassette trug er am Bund bei sich. Patrizia besaß ebenfalls einen. Ihr Schmuck war noch da. Zwei Armbänder, ein paar Ringe, die Uhr, die er ihr zu ihrem letzten Geburtstag geschenkt hatte, die sie nur selten trug, bestimmt nicht bei der Arbeit im Haus oder im Garten, die Kette mit dem eingefaßten Rubin, alles in allem vielleicht achtzigtausend wert. Das Bargeld war fort. Sie hatte ihm also Geld geboten, um ihn loszuwerden. Aber das hatte ihm nicht gereicht! Dann stand Edmund wieder vor dem Küchentisch, vor diesem Fetzen mit dem engumschlungenen Paar. Wie sie sich an ihn geklammert hatte, als ob sie in ihn hineinkriechen wollte. Paul hatte ihm einmal geschildert, wie das damals gewesen war. Wie sie während der Urteilsbegründung neben ihm saß, ganz reglos und still, den Blick unverwandt auf Schramm gerichtet. Lächelnd, wirklich und wahrhaftig lächelnd, als ob sie haushoch über den Dingen stünde, die da vorne besprochen wurden. Als ob es nur ein Theaterstück wäre, was der Richter inszenierte. Noch dazu ein amüsantes. Und wie Schramm sich ihr zudrehte, sie anschaute und ebenfalls lächelte. Wie sie daraufhin loshetzte, schreiend und so schnell, daß niemand gleich reagieren konnte.
»Heiko, nimm mich mit! Nimm mich mit! Laß mich doch nicht allein! Du darfst mich nicht allein lassen. Das halte ich nicht aus! «
Und es war doch ein gewaltiger Unterschied, sich die Verzweiflung anderer anzuhören und sich dann unvermittelt selbst damit konfrontiert zu sehen. Es tut mir leid, Ed! Ein verlassener Ehemann! Es gab einen unter seinen Patienten, einen Mann, der sich selbst in Frage stellte, weil seine Frau einen anderen ihm vorgezogen hatte. Patrizia doch nicht! Warum hatte sie diesen Schweinehund überhaupt ins Haus gelassen? Edmund versuchte, sich das vorzustellen. Er mußte sie irgendwie überrumpelt haben. Aber Patrizia hatte versucht, das Beste aus der Situation zu machen. Lächeln, nicht schreien. Sie hatte viel gelernt in den letzten Jahren. Man muß mit den Leuten reden. Und man muß sie reden lassen. Zuhören, das war wichtiger als alles andere. Zuhören, nachdenken, Auswege finden. Kaffee trinken! Zeit schinden. Und dann? Dann hatte Schramm das Geld aus der Kassette genommen, sie gezwungen, diesen blödsinnigen Satz auf den Rand des Zeitungsfotos zu schreiben und mit ihm zu gehen. Warum denn, zum Teufel? Was wollte dieser Dreckskerl denn noch von ihr? Was ging vor in solch einem Hirn? 6 Sieben Jahre Knastphantasien! Alles in Edmund verkrampfte sich bei der Vorstellung, heiß wurde ihm auch. Es war, als ob da plötzlich etwas in seinem Innern in Brand geriet. Wenn dieses Schwein sie angerührt hatte… Edmund Bracht hatte sich bis zu diesem Freitag für einen ausgeglichenen Mann gehalten. Er hatte während seines Studiums und danach genug über seine eigenen Ängste, Fehler und Schwächen gelernt, hatte geglaubt, das reichte für ein Leben. Es könnte gar keine Situation kommen, die er nicht innerhalb kürzester Zeit in den Griff bekam. Aber das hier war keine Situation. Es war Hilflosigkeit und Verzweiflung, es war nackte Panik, ein schwarzes Loch mit Unmengen von Glut am Boden. Es war die Hölle. Angst um Patrizia, Angst um ihre Gesundheit und um ihr Leben, fürchterliche Angst. Wer wollte denn mit Sicherheit sagen können, was in so einem Scheusal vorging. Edmund konnte es. Wie er da vor dem Tisch stand, wurde ihm eine Menge klar, Dinge, über die er vorher gar nicht nachgedacht hatte. Patrizia war diesem Schweinehund hörig gewesen, für einen Typen wie Schramm war das mehr als nur schmeichelhaft. Und dann all die Jahre hinter Gittern. Und sie ließ nichts von sich hören, kein Besuch, keine einzige Zeile. In den ersten Jahren mochte Schramm sich noch gedacht haben, daß Paul Großmann jeden Kontakt verhinderte. Aber dann
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