Die Augen Rasputins
gerührt, stand immer noch beim Tisch und schaute sie an. Vielleicht wartete er nur auf ihre Antwort. Aber sie wußte nicht, was sie antworten sollte, griff nach dem Löffel und begann zu essen.
Schramm deutete mit dem Kopf zum Herd hin. Da bewegte
sich der Dicke endlich, ging zum Herd, nahm ein Geschirrtuch und band es sich vor das Gesicht. Nur die Augen blieben frei.
Anschließend füllte er noch zwei Teller, legte in jeden einen Löffel hinein und ging damit zur Tür. Er drückte die Klinke mit dem Ellbogen nieder und zog die Tür mit der Schulter nach innen auf. Schließen konnte er sie auf die Art nicht mehr. Sie rechnete damit, daß Schramm aufstand und das tat, aber er griff ebenfalls nach seinem Löffel.
Sie horchte den Schritten nach, durch die Diele und die Treppe hinauf, oben wurden sie von einem dicken Teppich verschluckt.
Im Geist sah sie, wie der Dicke auf die Tür des Schlafzimmers zuging. Die lag der Treppe genau gegenüber. Wie er den Schlüssel einsteckte…
In jeder Hand einen Teller Suppe! Einen davon mußte er abstellen, besser noch beide, um nichts zu verschütten, wenn er den Schlüssel aus seiner Hosentasche zog.
Den Schlüssel!
Schramm hatte ihm keinen Schlüssel gegeben. Ich bin hier der Boß. Der Boß verwahrt die Schlüssel. Den zur Werkstatt trug er doch auch bei sich. Aber er hatte auch gesagt:
»Peter kümmert sich schon drum… «
Vielleicht hatten sie sich das geteilt. Er behielt sie im Auge, und der Dicke war für die Retlings zuständig.
Zu hören war gar nichts, aber das mußte nichts bedeuten. Die Zimmertüren im Erdgeschoß ließen sich alle geräuschlos öffnen und schließen. Mit den Türen im ersten Stock verhielt es sich wahrscheinlich ebenso. Genau wußte sie es nicht, sie war nie im ersten Stock gewesen, kannte nur die Lage der einzelnen Räume. Sie führte mechanisch einen Löffel nach dem anderen zum Mund, kaute auf den Wurstscheiben herum, schluckte, horchte. Auch ein Schlüssel, der im Schloß gedreht wurde, verursachte nicht zwangsläufig Lärm.
»Ist die Suppe gut? «
fragte er.
Sie nickte flüchtig. Von oben die Stimme des Dicken. Mit amüsiertem Unterton und ein wenig gedämpft von dem Tuch.
»Abendessen, die Herrschaften. Und diesmal wird gegessen.
Der Chef hat’s angeordnet. «
Dann wieder Stille.
»Schmeckt’s dir wirklich? «
fragte er. Noch bevor sie erneut nicken oder ihm sonstwie antworten konnte, entschuldigte er sich, weil er ihren Wunsch nach Eiern nicht hatte erfüllen können.
»Ich hab’ mir überlegt «, sagte er,»ob ich Peter morgen in die Stadt schicke, daß er was einkauft. Aber ich weiß nicht, ob das gut ist. Ist wohl besser, wenn wir nicht unnötig in der Gegend rumlaufen. Sind ja auch noch genügend Sachen im Haus.
Verhungern werden wir nicht. Was meinst du? «
»Ich kann notfalls eine ganze Woche von Konserven leben «, erwiderte sie, lächelte dabei,»und das mit den Eiern war doch nur so eine Idee. «
»Aber keine schlechte, Püppi. Eier sollte man im Haus haben, sagte meine Mutter immer. Und so’n schönes, weichgekochtes Frühstücksei ist nicht zu verachten. Ich glaub’, ich schick’ ihn, was soll’s. Ist ’ne ruhige Gegend hier. Das kriegt doch keiner mit. Er kann ja ’n bißchen aufpassen. «
Dann wurde er plötzlich verlegen.
»Du hast doch Geld
eingesteckt. Ich bin im Moment etwas klamm. «
»Es ist in meiner Handtasche. Nimm es dir ruhig. «
Sie überlegte wieder, ob sie ihn nach dem Koffer fragen sollte.
Der Teller war leer, seiner auch. Er stellte sie ineinander und erhob sich. Als sie es ihm gleichtun wollte, meinte er:
»Bleib doch noch’n Moment sitzen. Wir haben ’ne lange Nacht vor uns. «
Er sprach lauter, als sie es von ihm gewohnt war, stellte die beiden Teller im Ausguß ab, kam zurück und setzte sich wieder.
Im gleichen Moment wurde oben eine Stimme laut.
»Kann ich ins Bad? «
Frau Retling, ganz ohne Zweifel. Und der Dicke antwortete:
»Natürlich. «
Fragte im gleichen Atemzug:
»Was ist mit Ihnen? Auch mal aufs Klo? Nicht? Aber die Nacht ist lang, denken Sie dran. «
Die Fragen hatten offenbar Albert Retling gegolten. Geantwortet hatte der ihm nicht, vielleicht nur mit dem Kopf geschüttelt. Es paßte zu dem alten Mann, er war stolz, er würde kein überflüssiges Wort an so einen verschwenden.
Sie lächelte ihn an, ganz weich vor Erleichterung, beinahe zärtlich in diesem Augenblick. Er lächelte zurück. Dann griff er nach ihrer Hand, zog sie
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