Die Auserwählte: Roman (German Edition)
Blitzschlag-Narbe.
Jeremy bemerkte, dass ich die Narbe betrachtete. »Möchtest du sie sehen?«, erkundigte er sich. Ich spürte seinen Atem im Gesicht, der heiß genug war, um den Sauerstoff zu verbrennen, den ich nachzutanken versuchte.
Ich machte den Mund auf, war jedoch immer noch damit beschäftigt, wieder Atem zu schöpfen, deshalb nickte ich nur. Seine Finger wanderten zu den Knöpfen, öffneten drei weitere und teilten sein Hemd. Seine Blitzschlag-Narbe glich einer seltsamen, fremdartigen Rose. Ich berührte sie mit meinen behandschuhten Fingern.
»Die ist wunderschön«, sagte ich und meinte es auch so. An ihm war sie wunderschön. An ihm war alles wunderschön.
Jeremy deutete auf meine Handschuhe. »Die kannst du jetzt ausziehen, weißt du? Du brauchst nichts vor mir zu verstecken.«
Ohne nachzudenken, zog ich meine Hand zurück. »Nein«, widersprach ich, und Jeremy machte ein langes Gesicht. »Tut mir leid. Dazu bin ich noch nicht bereit.«
»Schon gut«, entgegnete er, doch er klang gekränkt. Er hatte mir seine Blitzschlag-Narben gezeigt, und ich verheimlichte ihm meine. »Ich sollte jetzt gehen, bevor die Apostel mich suchen kommen. Ich bin bereits zu lange hier.«
Er stand auf und knöpfte sein Hemd wieder zu. Dann drehte er sich zur Tür.
Ich sprang auf, zog meine Handschuhe aus und ließ sie auf den Boden fallen. »Jeremy«, sagte ich, und als er sich umdrehte und mich ansah, streckte ich ihm meine Hände entgegen. Über meine Handflächen loderten rote Adern, gezackte Lebens- und Liebeslinien.
Er kam zu mir zurück und betrachtete meine Hände. »Die sind reizend«, meinte er. Ich hatte noch nie einen Typen in meinem Alter das Wort »reizend« sagen hören.
Ich schüttelte den Kopf und fragte mich, was Jeremy wohl denken würde, wenn er meinen ganzen rot geäderten Körper sehen würde, doch dann hörte ich auf, darüber zu grübeln, denn Jeremy legte die Arme um mich, zog mich abermals an sich, und seine Lippen brannten auf meinen.
Er löste den Kuss, ehe eine weitere Vision durch mein Bewusstsein schießen konnte.
Ich hörte Schritte auf der Treppe, die in den dritten Stock führte. Mein ganzer Körper spannte sich an, und mein Rückgrat wurde starr.
Jeremy öffnete die Tür, vor der Iris stand und die Hand nach der Klinke ausstreckte. Sie beäugte Jeremy argwöhnisch.
»Bruder Jeremiah«, sagte sie, dann blickte sie an ihm vorbei und sah mich an.
Ich schenkte ihr mein schwesterlichstes Lächeln. »Hallo Schwester Iris«, sagte ich in beiläufigem Tonfall und setzte den etwas ausdrucklosen Blick auf, mit dem ich den ganzen Vormittag herumgelaufen war.
»Schwester Mia«, erwiderte sie nur. Sie kniff die Augen leicht zusammen, als sie sich wieder zu Jeremy drehte. »Einige von uns gehen an den Strand, um sich um die Obdachlosen zu kümmern. Schließt du dich uns an, Bruder? Es ist schon eine Weile her, seit du uns das letzte Mal mit deiner Anwesenheit beehrt hast.« Sie klang unnötig aggressiv und beschuldigend, doch Jeremy verhielt sich, als wäre sie ganz und gar höflich zu ihm gewesen.
»Selbstverständlich«, sagte er und trat auf den Flur hinaus.
»Was ist mit mir?«, fragte ich, da ich glaubte, Jeremy, Mom und mir würde womöglich die Flucht gelingen, wenn wir zum Strand gingen. In diesem Fall würden wir nicht darauf warten müssen, dass uns die Suchenden zu Hilfe kamen. Doch es würde schwierig werden, Mom loszueisen. Sie würde sich wehren und uns bremsen.
Doch Iris sagte zu mir: »Vater möchte sich in seinem Arbeitszimmer mit dir unterhalten.« Sie lächelte und fügte hinzu: »Unter vier Augen.«
37
E r wird es merken. Das war mein einziger Gedanke, als ich zu Prophets Arbeitszimmer ging. Prophet würde merken, dass meine Gehirnwäsche nicht mehr wirkte, und dann würde er … Was würde er tun? Töten konnte er mich nicht. Er brauchte mich. Aber meine Mom … Sie brauchte er nicht.
Ich erinnerte mich daran, was Mom wiederholt zu mir gesagt hatte: Er möchte mich ständig bei sich haben.
Langsam wurde mir klar, warum Prophet sie hierhergeholt hatte. Es hatte nichts mit Liebe zu tun, sondern es ging ihm ausschließlich darum, mich zu kontrollieren. Sie war eine Absicherung für ihn. Selbst wenn meine übersinnliche Gehirnwäsche scheitern sollte, wusste er, dass ich sie nicht im Stich lassen würde, und wenn alle Stricke reißen sollten, konnte er sie als menschlichen Schutzschild benutzen.
Mir blieb nichts anderes übrig, als zu hoffen, dass nicht alle Stricke
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