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Die Auserwählte: Roman (German Edition)

Die Auserwählte: Roman (German Edition)

Titel: Die Auserwählte: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Bosworth
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leere Flur im zweiten Stock war mit einer dünnen Schicht Putz bedeckt, der sich von der Decke gelöst hatte. Ich hoffte, dass er kein Asbest enthielt.
    Die meisten Klassenzimmer waren mit gelbem Band abgeriegelt. Ich spähte im Vorbeigehen durch Fenster und erhaschte Blicke von zersplitterten Scheiben, umgekippten Tischen und Papier, das überall verstreut lag. Warum hatte Mr Kale hier oben bleiben wollen? Dieses Geschoss war unheimlich.
    Als ich endlich bei Raum 317 ankam, war das Schrillen der Schulglocke für die vierte Unterrichtsstunde bereits eine ferne Erinnerung.
    Ich drehte den Türknauf so vorsichtig wie möglich und machte langsam die Tür auf …
    » … und einen Strom von Licht über die finstere Welt gießen durfte. Eine neue Art von Menschenwesen … «
    Mr Kale blickte von dem aufgeschlagenen Buch auf, das er in den Händen hielt. Er sah mich in der Türöffnung stehen und verstummte abrupt, doch sein Gesicht blieb ausdruckslos. Ich erkannte, dass er verärgert war, obwohl er keine Miene verzog. Mr Kales Augen hatten die Farbe von Rohöl. Sie passten zu seinem Haar, das er nackenlang trug und glatt nach hinten kämmte. Seine Wangen waren mit Pockennarben übersät, und die Falten um seinen Mund schienen wie mit einem Skalpell geschnitzt.
    »Willkommen zurück, Miss Price.« Seine raue Stimme verursachte mir Gänsehaut. Mr Kale klang immer, als hätte er mit Glassplittern gegurgelt. Wenn er vorlas – ob es sich um Dickens oder um Shakespeare handelte –, hörten sich die Worte jedes Mal an, als stammten sie aus einem knallharten Kriminalroman.
    »Tut mir leid, ich wollte nicht stör…«
    Mr Kale unterbrach mich. »Ich nehme an, Sie sind auf dem Laufenden, was die Lektüre anbelangt, nachdem ich am Anfang des Schuljahrs den kompletten Lehrplan ausgeteilt habe.«
    Im Ernst? Welcher Lehrer erwartete von einem, dass man während eines Ausnahmezustands seinen Hausaufgaben Priorität einräumte?
    Mr Kale lächelte schmal. Er schien besonderen Gefallen daran zu finden, mich zu quälen. »Können Sie uns sagen, Miss Price, in welchem Zusammenhang Mary Shelleys Frankenstein mit dem griechischen Prometheus-Mythos steht?«
    Ein ausdrucksloser Blick war das Beste, womit ich aufwarten konnte. Ich hatte jede Verfilmung von Frankenstein gesehen, die jemals gedreht worden war – das Monster und ich hatten eine Menge gemein –, hatte aber trotzdem keinen blassen Schimmer, wovon Mr Kale sprach.
    » Der moderne Prometheus ist der Untertitel des Romans.« Sosehr ich es mir wünschte, die Stimme, die antwortete, war nicht meine. Zum einen handelte es sich um eine Männerstimme. Zum anderen kannte sie die Antwort. Ich hielt nach dem Besitzer der Stimme Ausschau und entdeckte das schönste Paar gequälter blauer Augen, das ich je gesehen hatte und das mich durch eine schwarz gerahmte Clark-Kent-Brille anstarrte. Und das Gesicht hinter der Brille … kantig, mit einem elegant geschwungenen Mund. Und über der Brille … weiches dunkles Haar.
    Wer auch immer dieser Typ war, er hatte vor dem Erdbeben nicht in Mr Kales Englischunterricht gesessen. Das wäre mir aufgefallen. Mir wäre gar nichts anderes übrig geblieben, als ihn zur Kenntnis zu nehmen. So wie ich jetzt zur Kenntnis nahm, wie gesund er aussah, nicht abgemagert und unterernährt. So wie ich jetzt zur Kenntnis nahm, wie ordentlich und sauber seine Bekleidung war. So wie ich jetzt seine manikürten Fingernägel zur Kenntnis nahm.
    Wenn ich ihm allerdings nur in die Augen blickte, in seine gequälten blauen Augen, sah ich jemanden, der mehr gelitten hatte als jeder andere von uns.
    Genau wie bei meiner ersten Begegnung mit Katrina kam ich sofort zu dem Schluss, dass dieser Typ nicht dazupasste. Irgendetwas an ihm stimmte nicht. Oder alles an ihm war zu stimmig.
    Mr Kale drehte sich von mir zu dem Typen mit der Brille. »Mr Parish, oder?«
    »Jeremy«, sagte er.
    Jeremy , wiederholte eine hungrige Stimme in meinem Kopf.
    »Jeremy«, wiederholte Mr Kale. »Mir ist bewusst, dass Sie neu in meinem Unterricht sind, und vielleicht pflegen Ihre anderen Lehrer liberalere Lehrmethoden, aber in meinem Klassenzimmer hebt man die Hand, bevor man spricht.« Mr Kale drehte sich wieder zu mir.
    »Setzen Sie sich.«
    Ich ging schnurstracks zu einem Tisch ganz hinten im Raum, neben der Fensterfront mit Blick nach Westen zum Meer. Um dorthin zu gelangen, musste ich an Jeremy vorbeigehen, und als ich das tat, sah er mich mit seinen unendlich traurigen Augen unverwandt an. Es kam

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