Die Auserwählte: Roman (German Edition)
Bruder womöglich aufheitern. Ich öffnete den Mund, doch dann schloss ich ihn wieder, als ich mich an den merkwürdigen Ausdruck in Quentins Augen erinnerte und an die seltsame, synchronisierte Art und Weise, wie er, Schiz und die anderen sich gemeinsam bewegt hatten.
Und an die Narbe.
»Hast du das gesehen?« Parker deutete auf ein Flugblatt in der Mitte der Wand.
TREFFEN DER ERDBEBEN-ÜBERLEBENDEN
MO-FR, 18-20 UHR
SKYLINE-HIGHSCHOOL, RAUM 317
Raum 317. Warum kam mir das irgendwie bekannt vor?
»Vielleicht würde so etwas Mom helfen«, sagte Parker.
»Sie verlässt doch nicht einmal ihr Zimmer«, erinnerte ich ihn. »Glaubst du etwa, wir könnten sie in die Schule bringen?«
»Wir könnten es wenigstens versuchen. Nichts von dem, was wir bislang probiert haben, hat funktioniert.« Aus seiner Stimme war Anspannung herauszuhören. Ich konnte erkennen, dass er noch immer sauer auf mich war, weil ich ihn am Morgen daran gehindert hatte, den Helden zu spielen.
An der Wand hingen noch etliche andere Exemplare des Flugblatts. Ich nahm dasjenige herunter, das Parker betrachtete. »Wir können es Mom ja mal zeigen, dann sehen wir schon, was sie davon hält.«
Ich faltete das Flugblatt zusammen und wollte es in meine Hosentasche stecken, doch es blieb an irgendetwas hängen. Ich zog die Tarotkarte heraus, die Katrina mir gegeben und die ich völlig vergessen hatte.
Treffen wir uns im Raum 317.
»Ist das eine Tarotkarte?«, fragte Parker.
Ich starrte den Turm an, der über dem Rand des Kliffs thronte. Den gezackten gelben Blitz. Die fallenden, schreienden Menschen, die ihre Augen genauso weit aufgerissen hatten wie ihren Mund. Es war beunruhigend, dass ihre Blicke genau auf mich gerichtet zu sein schienen, wie die Blicke der Toten an der Gedenkwand.
»Ja«, erwiderte ich geistesabwesend.
»Woher hast du sie?«
Ich wollte Parker nicht von meinem Erlebnis mit Katrina erzählen. Wollte ihn nicht mit noch einer weiteren Portion Verrücktheit belasten.
»Gefunden.« Ich steckte die Karte zusammen mit dem gefalteten Flugblatt wieder in die Hosentasche. Eigentlich hätte ich die Karte am liebsten in einen Mülleimer geworfen und gehofft, dass ich Katrina nie wiedersehen würde. Aber sie wirkte wie eine Antiquität. Ich konnte sie nicht einfach wegwerfen.
»Mia?«, fragte Parker in finsterem Tonfall. »Glaubst du, Mom kommt allein zurecht?«
»Da bin ich ganz sicher.« Als seine ältere Schwester war es mein Job, ihn anzulügen, um seine Sorgen zu lindern.
»Lügnerin«, sagte Parker – anscheinend war ich ziemlich mies in meinem Job – und schüttelte den Kopf. Sein blondes Haar strich über seine bogenförmigen Augenbrauen. Wahrscheinlich hätte niemand, der Parker und mich zusammen sah, vermutet, dass wir Geschwister waren. Mein Haar – das endlich wieder bis in meinen Nacken gewachsen war, nachdem mir der letzte Blitzschlag jede Strähne vom Kopf gebrannt hatte – war beinahe schwarz. Parker hatte flaschengrüne Augen. Meine hatten einen dunklen Grauton. Er sah aus wie Mom. Ich ähnelte eher unserem Vater, der schon vor so langer Zeit an Magenkrebs gestorben war, dass ich mich nicht mehr an sein Gesicht erinnern konnte. Ich musste mir Fotoalben ansehen, um mir ins Gedächtnis zu rufen, wie er ausgesehen hatte, und war jedes Mal ein wenig überrascht, wenn mich meine eigenen Augen von den Fotos anstarrten.
»Wir sollten nach Hause fahren und nach ihr sehen«, sagte Parker. »Wenn wir uns beeilen, sind wir zur vierten Stunde wieder hier.«
»Parker … nein. Sie muss sich daran gewöhnen, dass wir nicht jede Sekunde zu Hause sind. Vielleicht tut es ihr sogar ganz gut, ein bisschen Freiraum zu haben, ohne dass wir ständig in ihrer Nähe sind.« Ich zog an seinem Hemd und ging in Richtung Cafeteria. »Komm mit, vielleicht bleibt dir noch genug Zeit, um was zu essen.«
Parker folgte mir, hielt aber einen Schritt Abstand.
Am Ende der Wand der Vermissten fiel mir der Zwilling des Flugblatts ins Auge, das ich mitgenommen hatte. Ich dachte zumindest, es sei der Zwilling. Allerdings bestand ein kleiner Unterschied, der mir ein mulmiges Gefühl in der Magengegend bereitete, als ich ihn bemerkte.
TREFFEN DER BLITZSCHLAG-ÜBERLEBENDEN
MO-FR, 20-22 UHR
SKYLINE-HIGHSCHOOL, RAUM 317.
6
I ch hätte mir mehr von meinem Mittagessen einverleiben sollen. Als die letzte Unterrichtsstunde begann, war mein Magen leer, und ich fühlte mich so erschöpft, dass ich mich nur mit Mühe zum Schwarzen Brett schleppen konnte,
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