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Die Auserwählte: Roman (German Edition)

Die Auserwählte: Roman (German Edition)

Titel: Die Auserwählte: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Bosworth
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um einen Blick auf den Verlegungsplan zu werfen. Wahlfächer waren bis auf Weiteres gestrichen worden, aber wir mussten alle täglich zu Mathematik, Naturwissenschaft, Englisch und Geschichte aufkreuzen, wenn wir das Schuljahr beenden und, wie in meinem Fall, unseren Abschluss machen wollten. Der Unterricht war umorganisiert worden und fand ausschließlich im Erdgeschoss statt, was zum einen am Lehrermangel und den drastisch reduzierten Schülerzahlen lag, zum anderen aber auch daran, dass die oberen Geschosse während des Erdbebens stärker beschädigt worden waren als die unteren.
    Heute hatte ich nur noch englische Literatur bei Mr Kale, den ich auch schon vor dem Beben gehabt hatte und den ich von allen meinen Lehrern am wenigsten mochte. Er benahm sich, als würde er uns in militärischer Strategie unterrichten und nicht in blumiger Prosa und Poesie des neunzehnten Jahrhunderts. Und er wusste immer, wenn man nur die Sekundärliteratur gelesen hatte anstelle des tatsächlichen Buchs, dessen Lektüre er uns aufgegeben hatte.
    Vor dem Verlegungsplan hatte sich eine unordentliche Schlange gebildet. Ich stellte mich an und beobachtete, wie Katastrophenhelfer in leuchtend orangefarbenen T-Shirts Tische aufstellten und den Berg von Essensrationen ordneten, die sie in einer Stunde verteilen würden. Einige der Helfer trugen wie Milizionär Brent Taser oder Pfefferspraydosen am Gürtel. Sie hatten mehrere Hunderte halb verhungerte Teenager zu füttern und waren schlau genug, nicht zu riskieren, dass die Menge außer Kontrolle geriet.
    Als sich die Schlange fortbewegte, traten das Mädchen und der Junge vor mir im Gleichschritt nach vorn, die Finger ineinander verschränkt, die Köpfe zusammengesteckt und vertraut miteinander flüsternd.
    »Und, wie hast du dich entschieden?«, fragte Freund ins Ohr von Freundin. »Möchtest du hingehen?«
    Freundin antwortete zögerlich. »Ich weiß nicht … Eigentlich schon, aber braucht man nicht ein Passwort oder so, um überhaupt herauszufinden, wo er stattfindet? Er ist doch jeden Abend woanders.«
    Mir wurde bewusst, dass sie über den sogenannten »Rove« sprachen, und beugte mich vor, um sie zu belauschen. Ich hatte geglaubt, der Rove, eine ultraexklusive Wanderparty, die jeden Abend an einem anderen Ort in der Wüste stattfand, sei ein Gerücht, etwas, das Rance Ridley Prophet sich ausgedacht hatte, um Los Angeles noch korrupter erscheinen zu lassen, noch vernichtungswürdiger im Stil des Alten Testaments. Offenbar hielten die beiden den Rove jedoch für real.
    »Ein Kumpel von meinem Bruder ist Ordner«, sagte Freund. »Er hat mir die Insider-Info gegeben, damit wir hinfinden. Sieh dir das an.«
    Freund holte ein dünnes Buch mit einem ziemlich abgegriffenen Umschlag aus seinem Rucksack. Ich neigte den Kopf, um den Titel lesen zu können. Das wüste Land von T. S. Eliot. Meine Augenbrauen zogen sich zusammen. Wie sollte ein Gedichtband einem dabei helfen, den Rove zu finden?
    Die beiden spürten offenbar, dass ich sie bespitzelte. Sie drehten sich um und sahen mich mit zusammengekniffenen Augen an, und Freund verstaute Das wüste Land wieder in seinem Rucksack. »Lass uns das später besprechen.«
    Die beiden sahen auf dem Plan nach, dann gingen sie, die Hände noch immer verschränkt, als hätten sie Angst davor, einander loszulassen.
    Ich sah ihnen mit gerunzelter Stirn hinterher und spürte Neid an mir nagen. Ich hatte noch nie einen Freund gehabt und ging nicht davon aus, dass ich jemals einen haben würde. Meine Monstrosität war mir auf den ganzen Körper geschrieben, und ich konnte mir nicht vorstellen, irgendjemanden – irgendeinen Jungen – diesen Teil von mir sehen zu lassen. Allerdings wäre es schön gewesen, jemanden zu haben, der mir am Herzen lag. Jemanden, dem ich am Herzen lag. Vor allem jetzt.
    Ich verdrängte das Pärchen und die Unterhaltung der beiden über den Rove aus meinen Gedanken und hoffte, dass sie sich getäuscht hatten und dass der Rove nicht existierte. Falls er doch existierte … falls es tatsächlich Leute gab, die in der Wüste feierten, wo so viele gestorben waren, wo meine Mom beinahe gestorben wäre, konnte ich nicht umhin, Prophet zuzustimmen. Vielleicht brauchte Los Angeles tatsächlich eine Lektion im Stil des Alten Testaments.
    Ich sah auf dem Plan nach und stellte überrascht fest, dass Mr Kale in seinem üblichen Klassenzimmer im zweiten Stock war. Er war der einzige Lehrer, der dort oben noch einen Raum hatte.
    Raum 317.
    Der

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