Die Auserwählte: Roman (German Edition)
damit sagen, dass die Menschheit solche Macht nicht verdient hat? Dass wir sie missbrauchen?«
Ich sank tiefer auf meinem Stuhl, als das Wort »Blitz« fiel.
Dieses Mal brauchte Mr Kale nicht darauf zu warten, dass jemand die Hand hob. Eine Jüngerin namens Lily meldete sich.
»Prophet sagt, dass ein Blitz Gottes das Erdbeben ausgelöst hat.«
»Sagt er das?« In Mr Kales Tonfall lag eine Spur Hohn, die einem unmöglich entgehen konnte.
Ein weiterer Jünger meldete sich zu Wort. »Sie haben es selbst gesagt. Feuer aus dem Himmel. Die Waffe Gottes. Das ergibt doch einen perfekten Sinn. Gott hat einen Blitz geschickt, um das sechste Sigel zu brechen und das Erdbeben auszulösen, um Los Angeles für seine schamlose Verderbtheit zu bestrafen.«
»Tja«, erwiderte Mr Kale gelassen, »dann wollen wir mal hoffen, dass das alte Sprichwort stimmt und der Blitz nie zweimal am selben Ort einschlägt. Also weiter …«
Die Schüler rutschten unbehaglich auf ihren Stühlen hin und her. Es war nicht die Tatsache, dass von dem Erdbeben die Rede gewesen war, was meine Klassenkameraden nervös machte. Es war die Vorstellung, dass es noch einmal passieren könnte.
Ich wusste nicht, ob ein Blitz das Erdbeben ausgelöst hatte, aber ich war nicht naiv, und ich konnte bestimmte Fakten nicht abstreiten. Am Tag des Bebens hatten Blitze das Stadtzentrum von Los Angeles regelrecht angegriffen . Eine andere Formulierung dafür gab es nicht. Ich hatte es zwar nicht mit eigenen Augen beobachtet – wenngleich ich seitdem ein paar hundertmal Filmaufnahmen davon in den Nachrichten gesehen hatte –, aber ich hatte den Angriff gespürt, als wäre jedes Mal, wenn ein Blitz herabgeschossen kam, eine Bombe in mir explodiert. Hunderte Menschen waren getroffen worden, als es Blitze gehagelt hatte. Viele von ihnen waren sofort tot gewesen. Und es hatte nicht aufgehört zu blitzen, als hätte das Gewitter nach etwas gesucht.
Zum damaligen Zeitpunkt war eine geologische Untersuchung im Gang – die ironischerweise mit Erdbeben zu tun hatte –, und Wissenschaftler hatten ein Loch in den Boden gebohrt, das tief in die Erde reichte, angeblich kilometerweit, bis zur Puente-Hills-Verwerfung, die exakt unter dem Stadtzentrum verläuft. Ein Blitz schlug genau in das Loch ein, und unmittelbar im Anschluss daran kam es zu einem Erdbeben der Stärke 8,6, das über drei Minuten andauerte.
Die weltbesten Seismologen hatten eine Theorie formuliert, nach der die Reibung entlang der Puente-Hills-Verwerfungslinie möglicherweise als eine Art Signalfeuer für den Blitz fungiert haben könnte. Als die Verwerfung getroffen wurde, verstärkte sie den Druck exponentiell und löste das Beben aus wie eine kilometerweit unter dem Erdboden vergrabene Atombombe.
Die Wissenschaftler, die in Fernsehinterviews ihre fundierten Vermutungen äußersten, waren geteilter Meinung. Keiner von ihnen konnte die Blitzschlag-Theorie beweisen, aber widerlegen konnte sie auch niemand. Eine Sache, die ich am eigenen Leib erfahren hatte, war die, dass man einen Blitz niemals unterschätzen sollte. Blitze waren die besten Trickbetrüger überhaupt. Von denjenigen, die vom Blitz getroffen wurden, waren niemals zwei auf dieselbe Art und Weise betroffen.
Das Einzige, dessen man sich im Zusammenhang mit Blitzen sicher sein konnte, war, dass die Behauptung, der Blitz würde nie zweimal am selben Ort einschlagen, gar nicht falscher hätte sein können. Nachdem etwas vom Blitz getroffen wurde, ist die Wahrscheinlichkeit, dass es erneut getroffen wird, wesentlich höher. Das hat etwas mit dem Austausch positiver und negativer Energie zu tun. Etwas positiv Geladenes auf dem Boden greift nach der negativen Aufladung der Wolken. Die beiden Ladungen treffen aufeinander, und es entsteht ein Blitz. Dass ich immer und immer wieder getroffen wurde, lag also an meiner enormen positiven Energie. Seltsam, denn ich hatte mich eigentlich immer für eine Pessimistin gehalten.
Als dreißig Minuten später die Schulglocke läutete, scharten sich die Schüler um Mr Kale und hielten ihm ihre Lebensmittelmarken vor die Nase, damit er sie unterschrieb. Wenn wir nicht die Unterschrift aller unserer Lehrer hatten, würden uns die Katastrophenhelfer unsere Essensrationen nicht aushändigen.
Katrina hatte mir gesagt, ich solle sie nach der Schule in diesem Raum treffen, und obwohl ich Mr Kales Klassenzimmer verlassen wollte, bevor sie auftauchte, blieb ich auf meinem Stuhl sitzen und wartete darauf, dass Jeremy sich
Weitere Kostenlose Bücher