Die Auserwählte: Roman (German Edition)
kleiner Junge, dessen Nase fürchterlich lief. Seine Mutter zerrte ihn gerade noch aus Rosemarys Weg, bevor er von ihr überrannt worden wäre.
Die wachsende Menschenmenge scharte sich um uns.
»Wir sollten uns wahrscheinlich aus dem Staub machen«, sagte Jeremy.
»Auf jeden Fall«, stimmte ich ihm zu.
Wir preschten durch die Schneise, die der Rottweiler geschlagen hatte, und rannten, bis die Zeltstadt hinter uns lag.
10
S obald wir innehielten, fing ich abermals zu weinen an. Ich konnte nicht anders.
Ich hatte versagt. Ich hatte Moms Medikamente nicht bekommen, und jetzt war meine einzige Schwarzmarktverbindung womöglich tot.
Tot. Meinetwegen.
Wenigstens spülten meine Tränen die Überreste des Pfeffersprays aus meinen Augen.
Etwa eine Querstraße von unserem Haus entfernt bekam ich mich wieder in den Griff. Ich schniefte, wischte mir übers Gesicht und mied Jeremys Blick. Er war so still, dass ich schließlich etwas sagen musste, um das Schweigen zu brechen. Eigentlich hatte ich keine Lust, mich zu unterhalten, glaubte aber, es würde mich vielleicht von dem Gedanken ablenken, dass ich aller Wahrscheinlichkeit nach unmittelbar für den Tod eines Menschen verantwortlich war.
Ich hatte so viele Fragen an Jeremy und wusste nicht, wo ich anfangen sollte. Als ich jedoch den Mund aufmachte, kam eher eine Feststellung heraus. »Du gehst eigentlich gar nicht auf die Skyline-Highschool, oder?«
Er ließ sich Zeit, bis er sich für eine Antwort entschied. »Nein.«
»Und du warst auch nicht wegen einer Essensration da.«
»Nein.«
»Was machst du dann dort?«
Er warf mir einen Blick zu, doch aus seinen Augen war ausnahmsweise einmal nichts herauszulesen.
Ich beschloss, meine Fragestrategie zu ändern. Oder meine Anklagestrategie. »Du hast bei unserem Haus herumgelungert.«
Jeremy verschlug es die Sprache, und er wirkte alarmiert. »Du hast mich gesehen?« Das Blut wich aus seinem Gesicht.
»Nein, meine Mom hat dich gesehen. Und Milizionär Brent hat dich heute nach der Schule gesehen. Er hält dich für einen Stalker.«
Jeremy wirkte einen Moment lang verwirrt, dann merkwürdig erleichtert. »Draußen«, murmelte er. »Sie haben mich draußen gesehen.« Er atmete tief ein und wieder aus. »Ich bin kein … Wer ist Milizionär Brent?«
»So ein Typ von der Nachbarschaftsmiliz. Er heißt Brent. Er ist ganz verliebt in seinen Taser, also solltest du ihm besser aus dem Weg gehen.«
Jeremy nickte, und die Wut kehrte in seine Augen zurück. »Ich erinnere mich an ihn. Wenn er mich nicht verscheucht hätte, hätte ich …« Er hielt inne.
»Hättest du was?«
Er ignorierte meine Frage. »Du hast mich also nie … bei eurem Haus gesehen? Nicht dass du dich erinnern könntest?«
»An dich könnte ich mich erinnern«, sagte ich und spürte, wie Hitze in meine Wangen stieg. »Ich meine, du wärst mir aufgefallen, weil du nicht wie ein Obdachloser aussiehst. Nicht aus irgendeinem anderen Grund. Nur … ach, egal.«
Jeremy sah mich mit gerunzelter Stirn an, als würde ich eine Fremdsprache sprechen, die er zu übersetzen versuchte.
Wir machten Platz, als sich auf dem Bürgersteig eine Gruppe Obdachloser näherte. Sie sahen uns mit flehendem Blick an. Alle hatten dieselben hohlen Wangen, und ihre Augäpfel schienen locker in ihren Augenhöhlen zu sitzen. Einige von ihnen hatten offene, nässende Pusteln an den Lippen und Nasenlöchern, die mit dem Erdbebenfieber einhergingen.
»Haben Sie ein paar Dollar übrig?«, fragte eine Frau mit Asche im Haar. Sie hatte ein kleines Mädchen an der Hand, das an ihren Fingern lutschte, als hätten diese einen Nährwert.
Mit ein paar Dollar hätte sich diese Frau nicht einmal mehr eine Packung Toastbrot kaufen können.
Parker hatte den Obdachlosen bereits genug Geld für uns beide gegeben, deshalb sagte ich: »Tut mir leid, ich …«
Die Frau fiel mir ins Wort. Sie sprach schnell, als wolle sie die Worte herausbekommen, bevor ich flüchten konnte. »Wir haben solchen Hunger. Wenn wir heute nichts zu essen bekommen, müssen wir zum Weißen Zelt gehen, und ich möchte meine Tochter nicht dorthin mitnehmen. Ich habe gehört, was da drinnen vor sich geht. Leute wie wir gehen hinein und kommen … verändert wieder heraus.«
Mir lief ein Schauder über den Rücken.
Die anderen Obdachlosen umringten Jeremy und mich, und ich fühlte Panik in mir aufsteigen. Ich sträubte mich gegen den Gedanken, fühlte mich aber an das Füttern von Tauben im Park erinnert. Sobald eine von
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