Die Auserwählte: Roman (German Edition)
Als ich die Tür öffnete, flatterte jedoch etwas Kleines, Flaches zu Boden. Ich bückte mich, um es aufzuheben.
Es handelte sich um eine Tarotkarte.
Nein, nicht um eine Tarotkarte. Um die Tarotkarte. Um die Turm-Karte aus Katrinas Kartenstapel.
»Was ist das?«, wollte Parker wissen.
Ich ließ die Karte in meiner Hosentasche verschwinden, bevor er sie sehen konnte. »Nichts«, sagte ich und meinte es auch so. Die Karte bedeutete mir nichts.
Um das Schulgebäude zu verlassen, mussten wir durch den Gang der Toten und Vermissten gehen. Mich überkam ein Frösteln, als ich sah, dass auch dort unzählige rote Flugblätter an den Wänden hingen. Die Nachmittagssonne schien durch die hohen Fenster, wurde von dem roten Papier reflektiert und tauchte alles in rotes Licht, auch uns.
29
» Ich möchte, dass du hier bei Mom bleibst«, sagte ich zu Parker, als ich vor unserem Haus am Randstein anhielt. »Geh nicht weg. Ich bin bald wieder da.«
Parkers Hände packten seine Schachtel mit Essensrationen fester und hinterließen fingerspitzengroße Abdrücke im Karton. »Du triffst dich mit diesem Typen, oder? Wie heißt er gleich wieder … Jason?«
»Jeremy.«
»Du kennst ihn doch kaum, Mia. Du solltest das nicht tun … was auch immer du mit ihm tust.«
Blut strömte in meine Wangen und erhitzte sie wie kleine Schmelzöfen. »Danke für den Tipp, Prophet . Wie kommst du denn drauf, dass wir überhaupt irgendwas tun?«
»Ich habe ihn heute Morgen gehört, als er aus dem Haus gegangen ist.«
»Na und? Er hat eine Übernachtungsmöglichkeit gebraucht. Wir hatten beide einen anstrengenden Abend hinter uns.«
»Ach, ja? Was ist denn passiert?« Er klang zu beiläufig.
»Ich nehme an, das weißt du bereits.« Das war eigentlich nur eine Vermutung, doch sein Schweigen bestätigte meinen Verdacht. »Quentin hat es dir erzählt.«
Mein Bruder starrte geradeaus und hielt die Schachtel noch immer fest, als würde sie jeden Moment zum Leben erwachen und ihm aus den Händen springen. »Er hat gesagt, du wärst gestern Abend in der Wüste gewesen und hättest Katrina geholfen. Warum darfst du immer machen, was du willst, während ich auf alles verzichten soll, was mir wichtig ist?«
»Erstens habe ich Katrina nicht geholfen, und zweitens weißt du wesentlich weniger über die Suchenden und was sie wirklich vorhaben, als du denkst. Sie sind gefährlich, Parker.«
»Na und? Die ganze Stadt ist gefährlich. Die ganze Welt ist gefährlich. Weißt du, was wirklich gefährlich ist? Neben dir zu stehen, Mia, aber das tue ich schon mein ganzes Leben lang, oder etwa nicht? Ich habe dir stets beigestanden … selbst wenn ein Gewitter im Anzug war.«
»Parker …«
»Ich möchte dir nicht mehr beistehen.« Seine Stimme klang gequält, doch die Worte auszusprechen tat mit Sicherheit weniger weh, als sie hören zu müssen.
»Dann entscheide dich für eine Seite«, sagte ich zu ihm und kämpfte gegen die Gefühle an, die mich innerlich zerrissen. »Wir oder sie. Beides kannst du nicht haben.«
Parker stieß die Tür meines Autos auf und stieg zu schnell aus. Die Schachtel auf seinem Schoß kippte um, und ihr Inhalt entleerte sich auf den Bürgersteig. Parker kickte eine Flasche Wasser über den Rasen, den Rest ließ er jedoch liegen, als er ins Haus stürmte.
Ich saß mit laufendem Motor da, umklammerte das Lenkrad und zitterte am ganzen Körper. Ich saß da, bis die Hitze der Wut in mir abkühlte und ich glaubte, fahren zu können, ohne die Kontrolle über meinen Wagen zu verlieren.
Dann fischte ich die Nachricht, die Jeremy mir hinterlassen hatte, aus meiner Hosentasche und strich sie glatt. Ich wusste, dass ich eigentlich ins Haus hätte gehen sollen. Nach Mom hätte sehen sollen. Mich mit Parker wieder hätte vertragen sollen. Es gab so viele Dinge, die ich hätte tun sollen , doch darunter war nichts, was ich tun wollte . Außerdem hatte es mir bislang gar nichts gebracht, etwas zu tun, was ich tun sollte.
Ich las Jeremys Nachricht noch einmal durch. Mein Blick blieb immer wieder an dem Wort »unbedingt« hängen. Ich muss dich unbedingt sehen. Er brauchte mich. Jemand brauchte mich.
Ich musste ihn auch unbedingt sehen. In diesem Moment gab es nichts auf der Welt, was mir wichtiger war oder was ich mir mehr wünschte.
30
I ch fuhr in östlicher Richtung auf dem Venice Boulevard, weg vom Strand und von der Zeltstadt, weg von meinem Zuhause und meiner Familie, die mich in den Wahnsinn trieb, und suchte nach der Adresse, die
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