Die Auserwählte: Roman (German Edition)
Ich spürte ein nervöses Kribbeln im Magen, als hätte ich etwas verschluckt, das noch nicht ganz tot war.
Meine Zukunfts-Karte zeigte einen nackten Mann und eine nackte Frau, die Händchen hielten.
Madam Lupescu betrachtete die Karte nachdenklich und machte ein finsteres Gesicht. Sie hob sie an einer Ecke an, und ich sah …
Mir stockte der Atem.
»Seltsam.« Madam Lupescu schälte die Karte mit dem nackten Paar von der Karte, die hinten an ihr klebte. Dann legte sie die beiden nebeneinander hin.
Ich konnte immer noch nicht atmen.
Sie tippte mit dem Fingernagel auf die Karte mit dem nackten Paar. »Die Liebenden.«
Dann tippte sie mit dem Fingernagel auf die Karte, die sie aufgedeckt hatte und auf der ein Turm am Rand eines Kliffs zu sehen war. Ein Blitz spaltete ihn entzwei. Menschen stürzten von ihm herab und fielen auf die zerklüfteten Felsen darunter.
»Der Turm«, sagte sie.
Ich schüttelte den Kopf, fand meinen Atem wieder. »Das ist ein Fehler, nicht wahr? Die Liebenden … das ist meine Zukunft.«
»Oder der Turm. Sie müssen sich für das eine oder das andere entscheiden, denn beides können Sie nicht haben.«
»Ich habe die Wahl?«
»Man hat immer die Wahl.«
Ich betrachtete die Turm-Karte. Die herabstürzenden Menschen mit ihren anklagenden Augen. »Was bedeutet das?«, fragte ich. »Der Turm.«
»Für Sie?« Madam Lupescu studierte mein Gesicht, als stünde die Antwort darin. »Loszulassen«, sagte sie mit einem scharfen Nicken. »Das Verborgene aufzudecken. Die Dinge in einer Momentaufnahme zu sehen. Und loszulassen. Völlig loszulassen.«
Ich nickte. »Was bin ich Ihnen schuldig?«
»Nur eine milde Gabe.«
Ich holte mein Portemonnaie aus der Tasche hervor. »Das ist ein schöner Kristall«, sagte ich und deutete auf die Vitrine hinter Madam Lupescu. Als sie den Kopf drehte, schnappte ich mir die Karte mit den Liebenden und steckte sie in mein Portemonnaie, dann legte ich meinen Zehndollarschein auf den Tisch.
»Danke«, sagte ich und meinte es auch so. Madam Lupescu hatte mich befreit, ohne es zu wissen.
Draußen nahm ich die Karte mit den Liebenden und steckte sie in meine Gesäßtasche zu Jeremys Nachricht.
Ich hätte die Wahl, hatte Madam Lupescu gesagt.
Ich nahm Katrinas Turm-Karte und warf sie auf den Bürgersteig. Sollte jemand anderer den Turm auflesen.
Ich hatte meine Wahl getroffen. Dann sah ich ihn auf der anderen Seite der Straße auf der Veranda auf mich warten.
Und mir wurde etwas bewusst … Das Kribbeln auf meiner Haut hatte aufgehört.
Das Unwetter, falls es jemals existiert hatte, war verschwunden.
31
J eremy lief auf die Straße, um mich auf halbem Weg zu treffen. Seine blauen Augen sahen mich forschend an, als suchten sie nach einem Anzeichen dafür, dass ich von jemandem belästigt worden war.
»Warum hast du so lange gebraucht?«, wollte er wissen. »Ich hatte dich doch gebeten, mich nach der Schule zu treffen. Das war vor Stunden. Ich habe mir Sorgen gemacht.«
Meine Hand ruhte auf der Tarotkarte, die sich in meiner Hosentasche verbarg. Die Liebenden.
Die kribbelnde Unwetterwarnung auf meiner Haut verhielt sich so still, als hätte sie nie existiert.
Ich lächelte und schüttelte den Kopf. »Es gibt keinen Grund mehr, sich Sorgen zu machen.«
Es kommt kein Unwetter.
Jeremy kniff die Augen zusammen, zwischen denen sich eine tiefe Falte bildete. »Bist du dir sicher, dass alles in Ordnung ist mit dir?«
»Mir geht’s gut«, versicherte ich ihm. »Alle Straßen sind völlig verstopft, deshalb komme ich so spät. Es hat den Anschein, als würde jeder, der noch in der Stadt ist, das Weite suchen.« Jeder, der kein Jünger, kein Suchender und kein Rover war.
Jeremy ließ die Schultern sinken, als würde die Luft aus ihm entweichen. Sein Haar hing ihm in die Augen.
»Hey, was ist denn los?« Ich berührte ihn am Arm und spürte die Hitze, die er durch sein Hemd verströmte. Er hatte gesagt, ich dürfe ihn berühren, er selbst sei sich jedoch nicht sicher, ob er mich anfassen könne, ohne mich in eine seiner Visionen hineinzuziehen. Doch sogar diese kurze Berührung ließ Hitze in meinem Magen tanzen und meine Knie weich werden.
Jeremy schüttelte den Kopf und mied meinen Blick. »Ich habe es vermasselt. Ich hätte nicht so lange warten dürfen. Jetzt ist es zu spät.«
Mein Gefühl, dass alles ins Lot kommen würde, fing an, sich zu verflüchtigen, aber ich gab mir alle Mühe, es aufrechtzuerhalten.
Es kommt kein Unwetter.
»Lass uns
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