Die Auserwählte: Roman (German Edition)
sich bereiterklärt, sich in Prophets … na ja, in sein Privatleben einzuschleichen. Um seinen Plan auszuspionieren, falls er einen hatte.«
»In sein Privatleben? Sie meinen …?« Ich ließ die Frage im Raum stehen.
»Ja. In sein Bett.«
»Oh.« Ich trat unbehaglich von einem Fuß auf den anderen. »Das klingt so, als wären Sie auf dem Holzweg gewesen. Haben Sie denn nie Die Stunde des Lichts gesehen? Prophet verbringt die Hälfte seiner Zeit damit, darüber zu sprechen, dass alle Unzüchtigen in der Hölle schmoren werden.«
»Was Menschen predigen und wie sie leben, sind zwei völlig verschiedene Paar Schuhe, Miss Price. Nur wenige Menschen, die solche Machtpositionen innehaben wie Prophet, können ihren Appetit lange zügeln. Zwischen Macht und Sex besteht eine untrennbare Verbindung, und das wollte meine Schwester ausnutzen, um das Ausmaß von seinen Fähigkeiten in Erfahrung zu bringen. Seine Jünger behaupten, er könne Wunder vollbringen, könne Kranke heilen und Dämonen vertreiben, und sie sagen, dass Gott zu ihm spricht. Nicht nur spricht, sondern durch Prophet Seinen Willen durchsetzt.«
»Sie denken, er besitzt den Funken?«, mutmaßte ich.
Er nickte. »Das hat Irene bestätigt, bevor sie starb. Bevor Prophet sie tötete.«
Seine Worte sorgten dafür, dass mir am ganzen Körper kalt wurde, und das hatte eine Menge zu bedeuten. »Woher wissen Sie, dass er sie getötet hat?«
»Meine Schwester war wie ich, nur viel stärker. Sie konnte ohne Worte kommunizieren, auch über große Entfernungen.« Er schwieg einen Moment. Als er fortfuhr, war seine Stimme rau. Sie klang wie Felsbrocken, die einen Hang hinunterrollen. »Ich habe es gespürt, als Prophet sie tötete. Ich spürte das Messer in sie eindringen. Spürte Blut aus ihr strömen. Ihr blieb gerade genug Zeit, um mir mitzuteilen, dass kein Zweifel besteht. Dass Rance Ridley derjenige ist. Der falsche Prophet.«
»Das tut mir leid.« Mir fiel nichts anderes ein, was ich hätte erwidern können.
»Zumindest war es ein ehrenvoller Tod. Sie ist für eine Sache gestorben, an die sie geglaubt hat. Das können nur wenige von sich behaupten.«
Ich erinnerte mich, was Quentin über das fünfte Siegel gesagt hatte, über die Vision von den Märtyrern. »War sie eine Märtyrerin? Hat jemand, Sie wissen schon, ihren Tod vorhergesehen ?«
»Ja«, sagte Mr Kale, und seine Kiefermuskeln arbeiteten. »Aber das hat sie mir verheimlicht. Sie wusste, dass ich versucht hätte, sie daran zu hindern, zu Prophet zu gehen. Allerdings wäre mir das ohnehin nicht gelungen. Sie war unsere Anführerin, und ich besaß nicht genug Kraft, um sie herauszufordern. Sie ist aus freien Stücken in den Tod gegangen, und die Rolle des Hierophanten ist an mich übergegangen.«
Ich erinnerte mich, was Katrina nach ihrem unwillkommenen Haarschnitt auf der Mädchentoilette zu mir gesagt hatte: dass die ehemalige Anführerin vor Kurzem gestorben sei und dass Mr Kale seine Position noch nicht lange innehabe. Sie hatte über den Tod ihrer Mutter gesprochen, als handle es sich um den Tod einer entfernten Bekannten. Offenbar war sie wesentlich besser darin, ihre Gefühle zu verbergen, als ich.
»Was ist denn ein Hierophant?«, fragte ich. Ich hatte den Begriff noch nie gehört.
»So bezeichnen wir den Anführer unseres Kreises. Bei den alten Griechen war ein Hierophant ein Priester, der heilige Rätsel deutete.«
»Katrina hat gesagt, Sie wären eher so was wie ein General.«
»Vermutlich bin ich ein bisschen von beidem.«
Ich seufzte. »Arme Katrina«, sagte ich, bevor ich mir auf die Zunge beißen konnte.
Mr Kale sah mich von der Seite an und zog eine seiner schwarzen Augenbrauen hoch. »Katrina ist stolz auf das Opfer, das ihre Mutter gebracht hat. Sie würde ebenfalls ihr Leben für die Sache geben, wenn sie dazu aufgerufen werden würde.«
»Nicht jeder muss als Märtyrer sterben.« Ich starrte den Lehrer wütend an, und in meiner Brust flammte Hitze auf. Ich war plötzlich wütend, ohne zu wissen, warum.
»Nein«, sagte Mr Kale. »Man kann auf viele verschiedene Arten sterben. Aber als Feigling zu sterben … das wäre meiner Ansicht nach die schlimmste.«
Warum hatte ich das Gefühl, dass er seine Bemerkungen an mich richtete? Schließlich sprachen wir nicht über meinen Tod. Trotzdem wurde das Feuer in meinem Herzen immer heißer, je wütender ich wurde.
Mr Kale sah mich unverwandt an. Er ließ die Arme sinken und trat einen Schritt auf mich zu. »Katrina glaubt noch
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