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Die Auserwählte

Die Auserwählte

Titel: Die Auserwählte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ian Banks
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heute keinen Anzug, sondern eine Robe, die der von Salvador nicht unähnlich war. Er deutete auf den Stuhl vor seinem Schreibtisch. »Bitte«, sagte er. Er nahm hinter dem Schreibtisch Platz, auf seinem Drehstuhl.
    Ich blieb zwischen den hohen Fenstern stehen. Ein kurzer Schauer trieb Regentropfen gegen die Scheiben. »Guten Tag, Allan«, sagte ich. »Ich bin gekommen, um zu sehen, wo ich stehe.«
    »Ah«, erwiderte er; er legte die Fingerspitzen gegeneinander und betrachtete sie.
    »Was hat Großvater über gestern abend gesagt?« fragte ich.
    »Er… er scheint der Ansicht zu sein, daß du… beichten solltest«, sagte Allan mit einem schmerzlichen Lächeln. »Daß deine Seele durch… durch etwas, das du getan hast… verunreinigt sei.« Er stieß einen tiefen Seufzer aus. »Salvador ist der Ansicht, du hättest… nun, zumindest dich selbst verraten, doch auch ihn, und, wie ich annehme, in gewisser Hinsicht uns alle. Verstehst du?«
    »Ich habe die Phiole nicht gestohlen«, erklärte ich. »Und wenn sich jemand nach gestern abend verraten fühlen sollte, dann wohl ich.«
    »Was?« Allan sah ehrlich verwirrt aus. »Was meinst du damit?«
    Ich starrte auf meine Stiefel. »Das kann ich dir nicht sagen«, erklärte ich ihm. »Es tut mir leid. Das steht allein Salvador zu.«
    Er schüttelte den Kopf. »Nun, ich fürchte, er will dich nicht sehen, bis du dich entschuldigst und eingestehst, Unrecht getan zu haben. Es scheint ihm sehr ernst damit zu sein; heute morgen war er wahrlich nicht gut aufgelegt, glaub mir.«
    »Wie geht es mit den Überarbeitungen voran?«
    Einen flüchtigen Moment lang schien er beinahe erschrocken. »Oh«, sagte er schließlich gelassen und zuckte die Achseln. »Recht gut; du weißt schon.«
    »Hmm«, machte ich, um ihm Zeit zu geben, mehr zu sagen, wenn er wollte. Offensichtlich wollte er nicht.
    »Ich hoffe, ich werde nicht ausgestoßen oder so?« fuhr ich fort.
    »Oh, nein!« erwiderte Allan und schüttelte nachdrücklich den Kopf. »Nein, ich glaube, Salvador ist der Ansicht… es würde dir guttun, wenn du etwas Zeit zur Besinnung und zum Beten hättest. Ganz für dich allein. Vielleicht möchtest du dich hier zurückziehen und über die Dinge nachdenken, auf deinem Zimmer, in der Bibliothek…« Er schien einen Moment zu überlegen, so als wäre ihm gerade ein Gedanke gekommen. Er zog die Augenbrauen hoch. »Oder vielleicht möchtest du eine Reise machen, eine Pilgerfahrt nach Luskentyre?«
    »Vielleicht. Was ist mit Cousine Morag?«
    Allan atmete lautstark aus und legte den Kopf auf die Seite. »Noch so eine wunde Stelle«, gestand er. »Salvador fühlt sich… schrecklich hintergangen.« Er schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht, wie er sich in der Angelegenheit entscheiden wird. Ich bin nicht sicher, daß Morag überhaupt noch beim Fest willkommen wäre. Sie hat uns zum Narren gehalten.«
    »Aber ich soll meine Suche nach ihr einstellen?«
    »Das nehme ich an. Sagtest du nicht sowieso, daß du ihre Spur verloren hättest?«
    »Wir bräuchten nur…« Ich zuckte die Achseln. »… eine Telefonnummer, zum Beispiel, und dann könnte ich oder jemand anders…«
    »Nun«, schnitt mir Allan mit einem bedauernden Lächeln das Wort ab. »Wir hatten die Telefonnummer ihrer Wohnung, aber…« Er streckte die Hände aus, Handteller nach oben. »Da wohnt sie ja nun nicht mehr.«
    »Wir haben keine andere Nummern, unter denen wir sie erreichen könnten?«
    »Nein.«
    »Hmm. Was ist mit ihrer Rolle beim Fest? Vor zwei Wochen schien es noch sehr wichtig. Ist es das nicht mehr? Versucht denn niemand, Morag zu finden?«
    »Nun«, sagte Allan und nickte; sein Gesicht nahm abermals einen schmerzlichen Ausdruck an. »Vielleicht haben wir, im Rückblick betrachtet, etwas übertrieben auf die Situation reagiert.«
    »Was?«
    Er stand auf und breitete die Arme aus. »Es ist nur, daß wir mittlerweile Zeit hatten, die Sache noch einmal gründlicher zu überdenken…« Er kam um den Schreibtisch herum. »Ich glaube, wir sind an jenem Tag alle ein wenig in Panik verfallen, meinst du nicht auch?« Er kam herüber und baute sich lächelnd vor mir auf. Er sah munter und frisch und gesund aus. »Die Lage ist nicht ganz so verzweifelt, wie es uns damals schien«, erklärte er mir. »Verstehst du, was ich meine?«
    Ich nickte nachdenklich. »Ja, ich denke, ich verstehe.«
    »Wie dem auch sei«, fuhr er fort; er ergriff meinen Arm und führte mich zur Tür. »Du mußt dir keine Sorgen deswegen machen. Du solltest

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