Die Auserwählte
ich war noch nie länger als einen Tag von der Gemeinde fort gewesen, ohne daß dieser Fall eingetreten war –, aber niemand trat vor. Ich vermute, es war naiv von mir, etwas anderes zu erwarten, aber nichtsdestotrotz war ich zuerst überrascht, dann verwirrt und schließlich traurig darüber.
Dann erfuhr ich durch Schwester Erin, daß Salvador beabsichtigte, die Gemeinde beim Abendessen mit einem seiner seltenen Auftritte zu erfreuen, und es vorziehen würde, wenn ich nicht zugegen wäre. Mir blieb keine andere Wahl, als mich zu fügen, und so stimmte ich zu, später – und vielleicht auf meinem Zimmer - zu essen, falls Salvador nach Beendigung des Mahls Lust haben sollte, noch die eine oder andere Geschichte zu erzählen.
Ich beschloß, abermals Sophi zu besuchen, und spazierte durch einen leichten Nieselschauer über die Brücke, aber bei den Woodbeans war niemand zu Hause. Mir kam ein Gedanke, und so ging ich die dunkle, tropfende Auffahrt hinauf und entdeckte an ihrem Ende Schwester Bernadette, die neben dem Tor auf der eingefallenen Mauer saß und über den Halbkreis aus unkrautüberwuchertem Asphalt blickte, in den Händen einen aufgespannten Regenschirm.
*
Schwester Bernadette war warm angezogen, schien aber dennoch zu frösteln. Sie blickte in die entgegengesetzte Richtung, zur Straße hin, als ich mich näherte.
»Schwester Bernadette«, sagte ich.
Sie sprang erschreckt auf und verhedderte sich dabei mit dem Regenschirm in den Ästen über ihr. »Oh! Is. Ich habe gar nicht – « stammelte sie. Sie schaute nach oben, dann zog sie am Schirm, so daß sie ihren eigenen kurzen, doch durchnässenden Sturzregen erzeugte, als die Blätter und Äste das auf ihnen gesammelte Wasser über sie ergossen. Sie zog abermals, aber der verhedderte Schirm hing hoffnungslos fest und Schwester Bernadette zerriß nur den Stoff der Bespannung. »Oh! Mist!« entfuhr es ihr, dann sah sie mich entsetzt an. »Entschuldige bitte.« Sie errötete, fuhr sich mit der Hand durch ihr nasses, zerzaustes Haar und zog dann abermals am Schirm.
»Laß mich dir helfen«, sagte ich und befreite den Schirm aus den Zweigen.
Schwester Bernadette wischte sich das Wasser vom Gesicht und vom Kopf und nickte mir zu, während sie den Regenschirm wieder aufrollte. »Vielen Dank«, sagte sie. Sie schaute sich um. »Es ist feucht, nicht wahr?«
»Ein bißchen nieselig«, pflichtete ich bei. Ich blickte zum Himmel. »Scheint aber nachzulassen.« Ich setzte mich auf die eingefallene Mauer. Schwester Bernadette sah einen Moment lang so aus, als würde sie sich auch hinsetzen, doch dann tat sie es nicht.
Sie holte tief Luft und bewegte die Schultern, als wären sie verspannt, während sie mich mit einem breiten, falschen Lächeln anstarrte. »Machst du einen Spaziergang?« erkundigte sie sich.
Ich zuckte mit den Achseln. »Ich schlendere nur so durch die Gegend«, erwiderte ich und lehnte mich zurück und zog mein Bein hoch, bis ich meinen Stiefelabsatz gegen die Steine verkeilen konnte. Bernadette wurde noch nervöser.
»Oh, schön«, sagte sie.
»Und du?« fragte ich.
»Ich warte auf den Lieferwagen, der das Feuerwerk für das Fest bringt«, erklärte sie hastig.
»Ah. Schön.« Ich lehnte mich mit dem Rücken gegen die Steine hinter mir. »Ich helfe dir.«
»O nein!« rief sie aus, ihre Stimme schrill vor Nervosität, doch noch immer mit diesem falschen Lächeln. »Nein, das ist nicht nötig«, erklärte sie, dann lachte sie. »Nein, es kann noch lange dauern, bis der Lieferwagen kommt; ich kümmere mich lieber allein darum, wirklich.« Sie nickte nachdrücklich, und ihr Gesicht glänzte feucht. »Um ehrlich zu sein, Is, ich genieße es, hier für mich allein zu sein. Gibt mir Gelegenheit zum Nachdenken, zur Besinnung. Um über Dinge nachzudenken halt. Wirklich.«
»Oh«, sagte ich freundlich. »Wäre es dir lieber, wenn ich wieder gehe?«
»Ach, herrje, so… verzeih mir bitte… so habe ich das nicht gemeint, Isis.«
»Gut.« Ich lächelte. »Also, Schwester Bernadette. Wie geht es dir denn eigentlich so?«
»Was?« sagte sie und schaute hektisch zur Straße, als ein Laster vorbeifuhr, dann starrte sie mich wieder an. »Ähm, wie bitte?«
»Ich habe mich nur erkundigt, wie es dir so geht.«
»Ähm, gut. Und dir?«
»Nun«, erwiderte ich und verschränkte die Arme. »Mir ging es auch gut, wirklich, bis gestern. Alles schien bestens zu laufen, nun, mal abgesehen von dem Problem, Cousine Morag ausfindig zu machen… äh, aber das
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