Die Auserwählte
Safari-Park?«
»Ja«, bestätigte Sophi. »Indische Tiger: ein Pärchen und zwei Junge.«
»In Khalmakistan gab es auch Tiger«, sagte Zhobelia. »Nicht, daß ich je dort gewesen wäre, aber man hat es mir erzählt.«
»Gibt es jetzt keine mehr?« fragte ich.
»O nein!« erwiderte Zhobelia. »Ich glaube, wir haben sie alle schon vor langer Zeit eingefangen und getötet und ihre Kadaver an die Chinesen verkauft. Die glauben, Tigerknochen und das ganze Zeug hätten Zauberkräfte. Ein dummes Volk.«
»Das ist schade«, sagte ich.
»Schade? Finde ich nicht. Es ist ihre eigene Schuld. Es zwingt sie ja niemand, dumm zu sein. Aber gute Kaufleute sind sie. Schlitzohrig. Ja. Das muß man ihnen lassen. Eine Ware ist immer soviel wert, wie die Leute bereit sind, dafür zu zahlen, nicht mehr, nicht weniger; da kann man sagen, was man will. Das hab ich gelernt.«
»Ich meinte, es ist schade um die Tiger.«
Zhobelia schnaubte verächtlich. »Du bist sehr großzügig mit deinem Mitleid. Die haben uns aufgefressen, mein liebes Kind. Ja. Sie haben Menschen gefressen.« Sie griff herüber und tippte Sophi auf die Schulter. »He. Miss Sophi, diese Tiger, in diesem Safari-Park nebenan vom Hof der Gemeinde, die brechen doch wohl nicht aus, oder?«
»Bei uns ist noch nie ein Tier ausgebrochen«, versicherte ihr Sophi. »Und außerdem sind wir auch nicht direkt neben dem Hof; der Safari-Park ist gute zwei Meilen entfernt. Keine Sorge, sie werden nicht ausbrechen.«
»Na gut«, sagte Zhobelia und lehnte sich wieder auf der Rückbank zurück. »Vermutlich sollte ich mir wirklich keine unnötigen Sorgen machen. Ich bin so zäh wie altes Stiefelleder. Welcher Tiger würde schon eine verschrumpelte alte Frau wie mich fressen? Nicht, wenn zarte junge Dinger wie Sie und Isis herumlaufen, was?« feixte sie und klopfte mir auf die Schulter, während sie mir schallend ins Ohr lachte. »Fesche, saftige junge Dinger wie ihr, was? Hübsch und appetitlich, was? Was?«
Ich drehte mich um und sah sie an. Sie zwinkerte mir zu und sagte noch einmal: »Was?«, dann holte sie irgendwo aus den Falten ihres Saris ein Taschentuch, um sich die Augen zu wischen.
Sophi warf mir grinsend einen Blick zu und zog die Augenbrauen hoch. Ich lächelte zufrieden.
*
Wir trafen Morag und Ricky in der Rezeption desselben Hotels, in dem Großmutter Yolanda übernachtet hatte. Ich hatte Morag am Abend zuvor, nachdem ich mit Sophi gesprochen hatte, in ihrem Hotel in Perth angerufen. Morag und Ricky hatten hier ein Zimmer für die Nacht genommen.
»He, Is«, sagte Morag und schaute zu Ricky, der verlegen den Blick abwandte. »Wir haben beschlossen, wenn du die ganze Sache wieder ins Lot gebracht hast, dann würden wir gern auf dem Fest heiraten; wir kommen zurück, wenn wir mit allen schottischen Wasserrutschen durch sind. Klingt doch cool, oder?«
Ich lachte und ergriff ihre Hände. »Es klingt wunderbar«, sagte ich. »Herzlichen Glückwunsch.« Ich gab ihr und Ricky einen Kuß auf die Wange. Ricky wurde rot und stammelte verlegen. Sophi und Zhobelia gratulierten ebenfalls; eine Flasche Sekt wurde bestellt und ein Trinkspruch ausgebracht.
Es galt noch immer, Zeit totzuschlagen; der Vollmond-Gottesdienst würde erst am Abend stattfinden. Ricky verschwand, um sich mal die Rutschen der Stirlinger Badeanstalt anzuschauen. Wir verbliebenen vier tranken Tee. Großtante Zhobelia verlor sich in Erinnerungen, wobei sie ihr Gedächtnis durchstreifte wie eine feine Dame einen blühenden, doch überwucherten und verwilderten Garten. Morag saß anmutig in Jeans und einem Seidentop da und spielte mit dem Goldarmband an ihrem Handgelenk. Sophi plauderte munter. Ich kämpfte gegen meine Nervosität an. Zhobelia erzählte den anderen nichts von den Geheimnissen, die sie mir im Pflegeheim anvertraut hatte, auch wenn schwer zu sagen war, ob sie es aus Diskretion tat oder weil sie es in ihrer Geistesabwesenheit einfach vergaß; beides war möglich.
Ricky kam zurück. Wir nahmen ein verspätetes Mittagessen im Restaurant ein. Großtante Zhobelia gähnte, und Morag bot ihr an, sie könne in ihrem und Rickys Zimmer ein kleines Nickerchen machen, was Zhobelia auch annahm.
Morag und Ricky machten sich zu den Wasserrutschen auf. Sophi und ich bummelten durch die Stadt, guckten uns die Schaufenster an und spazierten dann weiter um den Fuß der Burg und über den pittoresken alten Friedhof, genossen den klaren Himmel und ließ uns vom klammen, böigen Wind durchpusten. Als wir über
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