Die Auserwählte
Gott sei’s gedankt.
*
»Sie ist meine Großtante, und sie kommt mit uns mit!«
»Hören Sie, Herzchen, sie untersteht hier meiner Obhut, und ich kann nicht zulassen, daß eine unserer alten Damen einfach hier herausspaziert.«
»Sie ›spaziert‹ nicht einfach hier heraus, sie kommt aus freien Stücken mit, um in den Schoß ihrer Familie zurückzukehren.«
»Aye, nun, das sagen Sie. Was weiß ich, vielleicht sind Sie ja gar nicht ihre…«
»Großnichte«, half ich aus. »Nun, hören Sie, warum fragen wir sie nicht einfach selbst? Ich denke, Sie werden feststellen, daß sie alles, was ich sage, bestätigen kann.«
»Ach, kommen Sie, sie hat ja nun wirklich nicht mehr alle beieinander, oder?«
»Wie bitte? Meine Großtante mag ja gelegentlich etwas verwirrt scheinen, aber ich vermute, daß sich ein Großteil ihrer vermeintlich zunehmenden Senilität schlichtweg als Ergebnis des Aufenthalts in der unzureichend stimulierenden Umgebung entpuppen dürfte, die sie den Bewohnern hier, all Ihrer wohlmeinenden Bemühungen zum Trotz, wie ich überzeugt bin, bieten. Es würde mich nicht überraschen, wenn sich, nachdem sie erst einmal eine Zeit mit all den vielen, vielen Menschen verbracht hat, die sie lieben und die in der Lage sind, ihr eine fürsorglichere und spirituell erfüllendere Umgebung zu schaffen, eine deutliche Verbesserung ihres Zustands einstellen würde.«
»Ja!« hauchte Sophi neben mir. »Gut gesagt, Is.«
»Vielen Dank«, erwiderte ich, dann wandte ich mich wieder der molligen Dame mittleren Alters zu, die uns in die Eingangshalle des Gloamings-Pflegeheims eingelassen hatte. Die Dame hatte sich als Mrs. Johnson vorgestellt. Sie trug eine engsitzende blaue Uniform gleich der, die das Mädel bei meinem letzten Besuch hier vor zwei Nächten getragen hatte, und hatte wenig überzeugendes blondes Haar. »Also«, sagte ich, »ich würde jetzt gern meine Großtante sehen.«
»Nun, Sie können sie sehen, das kann ich nicht verhindern, aber ich bin nicht davon in Kenntnis gesetzt worden, daß sie hier auszieht«, erklärte Mrs. Johnson, dann drehte sie sich um und ging den Gang hinunter. Wir folgten ihr. »Ich weiß auch nicht, hier erfährt man einfach nichts. Nichts«, murmelte sie kopfschüttelnd.
Großtante Zhobelia war in einem Raum voller betagter Frauen, die alle auf hohen Stühlen saßen und Fernsehen guckten. Auf einer Anrichte stand ein großes Tablett mit Teegeschirr, und etliche der alten Damen – Zhobelia schien tatsächlich noch die jüngste von ihnen – nippten Tee, ihre knochigen, gichtigen Hände zitternd um dicke grüne Tassen geklammert, die auf ihren Untertassen klapperten. Zhobelia trug einen weiten, leuchtend roten Sari und einen passenden roten Hut im Stile eines Turbans. Sie schaute aufgeweckt und munter drein.
»Ah, da bist du ja!« sagte sie, sobald sie mich erspähte. Sie drehte sich zu einer der anderen alten Damen um und brüllte: »Siehst du, du närrisches altes Weib? Hab dir ja gesagt, daß sie wirklich hier war! Ein Traum, ha!« Dann drehte sie sich wieder zu mir um und hob einen Finger, als wolle sie einen Vorschlag vorbringen. »Hab’s mir überlegt. Hab mich entschieden. Hab beschlossen, Urlaub bei euch zu machen. Die Koffer sind schon gepackt«, erklärte sie und lächelte fröhlich. Mrs. Johnson stieß einen tiefen Seufzer aus.
*
»Eine Löwenbändigerin? Ach, du meine Güte!« sagte Großtante Zhobelia vom Rücksitz von Sophis Wagen aus, während wir quer über Land Richtung Stirling fuhren.
»Ich bin nicht wirklich Löwenbändigerin, Mrs. Whit«, erwiderte Sophi und gab mir mit der linken Hand einen Klaps auf den Schenkel, dann lachte sie. »Das erzählt Isis den Leuten nur immer, weil sie findet, daß es sich besser anhört. Ich bin Tierpflegerin; eigentlich mehr Mädchen für alles und Zoowärterin.«
»Was, also keine Löwen?« fragte Großtante Zhobelia. Sie saß seitwärts auf der Rückbank, die Arme auf der Rücklehne meines Sitzes. Ihre Reisetaschen nahmen nicht nur den Kofferraum des Wagens, sondern auch den gesamten hinteren Fußraum ein.
»O doch«, sagte Sophi. »Es gibt Löwen. Aber wir bändigen sie nicht.«
»Sie bändigen sie nicht!« rief Zhobelia aus. »Du meine Güte. Das klingt noch viel schlimmer! Sie müssen sehr mutig sein.«
»Unsinn«, schnaubte Sophi kichernd.
»Doch, das ist sie, Großtante«, wandte ich ein, »und auch fesch.«
»Ach, hör auf«, berief mich Sophi grinsend.
»Haben Sie auch Tiger in diesem
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