Die Auserwählte
wiederfinden, über die man scheinbar keine Kontrolle hatte. Doch auch zu ihm sprach Gott, also kam ich zu dem Schluß, wenn ich momentan tatsächlich den Beginn einer Vision erlebte, dann hatte mein Versuch früher an diesem Abend vielleicht doch Früchte getragen, wenn auch nicht ganz so, wie ich erwartet hatte.
»Hallöchen, Isis; geht es dir gut?« sagte eine Stimme neben mir und ließ mich erschreckt zusammenfahren. Ich mußte meine Augen geschlossen haben. Ich öffnete sie wieder. Ich hatte keine Ahnung, wieviel Zeit verstrichen war.
Es stand jemand neben meiner Hängematte; eine hochgewachsene, schemenhafte Gestalt blickte auf mich herunter. Ich hatte die Stimme erkannt. »Declan«, sagte ich und konzentrierte mich mit einiger Mühe. Was hatte er gefragt? Dann erinnerte ich mich. »Ja, mir geht es gut«, erklärte ich. »Wie geht es dir?«
»Ach, ich dachte nur, du würdest dich vielleicht etwas komisch fühlen, weißt du?«
»Ja. Nein; ich bin wohlauf.«
»Schön«, sagte er. Er stand einen Moment lang stumm da, gerade eben erkennbar im fahlen Lichtschein der offenen Dachbodenluke. »Bist du sicher?« fragte er, während er die Hand auf meine Stirn legte und mit den Fingern durch mein Haar strich. Er streichelte meinen Hinterkopf. »Herrgott, Isis; du bist echt wunderschön, weißt du das?«
»Wirklich?« erwiderte ich, was vermutlich die falsche Antwort war.
»Himmel, ja. Hat dir je jemand gesagt, daß du wie Dolores O’Riordan aussiehst?« fragte er und beugte sich näher heran.
»Wer?«
»Die Cranberries?«
»Wer?« wiederholte ich verwirrt. Seine Hand erzeugte ein wohliges Gefühl an meinem Hinterkopf, doch ich wußte, daß sich Declan, als Mann, damit kaum begnügen würde.
»Willst du sagen, du hast noch nie von den Cranberries gehört?« Er lachte leise und beugte sein Gesicht noch näher an das meine heran. »Meine Güte, du hast wirklich ein behütetes Leben geführt, was?«
»Vermutlich. Hör zu, Declan – «
»Ah, du bist echt wunderschön, wirklich, Isis«, sagte er und zog mit seiner Hand an meinem Hinterkopf mein Gesicht höher, während er sich zu mir herunterbeugte.
Ich legte meine Hände gegen seine Brust und schob ihn weg. »Declan«, sagte ich und drehte mein Gesicht zur Seite, um seinen Lippen auszuweichen, so daß seine feuchte Zunge sich in mein Ohr bohrte. »Du bist sehr nett, und ich mag dich, aber – «
»Ach, Isis, komm schon…« sagte er; er legte einen Arm um meine Hängematte und zog mich zu sich, während seine Lippen die meinen suchten. Ich stieß ihn nachdrücklicher von mir weg, und er ließ mich los, so daß ich zwischen den Deckenbalken hin und her schaukelte. Er seufzte, dann sagte er: »Ach, Isis, was ist denn los? Willst du mir denn nicht mal – « während er sich abermals vorbeugte und nach mir griff.
Ich streckte die Arme aus, um ihn von mir weg zu schubsen, doch er muß wohl gestolpert sein, denn im nächsten Augenblick fiel er auf mich und preßte mir die Luft aus der Lunge, während er selbst ein »Hui!« ausstieß. Unser gemeinsames Gewicht veranlaßte die Hängematte, seitwärts über die Türen, die den Fußboden bildeten, hinauszuschwingen; es knackte irgendwo jenseits meiner Füße, dann gab es einen Ruck, und in einem Augenblick hilflosen Entsetzens erkannte ich mit einem Schlag, was als nächstes geschehen würde.
»O nein!« schrie ich.
Der Nagel, den Bruder Zebediah in den Deckenbalken geschlagen hatte, um das Fußende meiner Hängematte daran zu befestigen, wurde aus dem Holz gerissen und ließ Declan und mich hilflos in die Dunkelheit unter der Dachschräge purzeln. Hätte Declan nicht seine beiden Arme um mich, meine Hängematte und meinen Schlafsack gelegt gehabt und wären meine Arme nicht aus demselben Grunde gefangen gewesen, dann wäre es einem von uns beiden vielleicht gelungen, einen von uns oder uns alle beide zu retten, doch statt dessen riß auch der zweite Nagel am Kopfende meiner Hängematte aus dem Holz und ließ uns der Länge nach genau zwischen zwei Stützstreben auf den harten, buckeligen Putz stürzen. Er brach wie das Eis auf einer Pfütze, und wir brachen in einer Wolke von Staub und Putzbröckeln durch den Fußboden ins Licht, während ich schrie und Declan brüllte und mit einem Mal noch jemand anders schrie.
Wir müssen uns in der Luft gedreht haben, denn ich landete neben Declan, dessen Kopf schmerzhaft auf meinen Bauch schlug. Wir landeten halb auf dem Fußboden des Zimmers unter uns – Boz’
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