Die Auserwählten - Im Labyrinth (German Edition)
reichten bis zum Deckel. Alle Karten, die Thomas sehen konnte, ähnelten einander: eine grobe Zeichnung eines quadratischen Labyrinths, die fast das ganze Blatt bedeckte. Oben rechts in der Ecke stand Abschnitt 3 , dahinter der Name Hank , dann das Wort Tag , gefolgt von einer Zahl. Die letzte besagte, dass es Tag 729 war.
Minho erklärte weiter: »Schon ganz am Anfang haben wir begriffen, dass die Wände sich bewegen. Sobald uns das klar war, haben wir alles aufgezeichnet. Wir sind immer davon ausgegangen, dass wir irgendein Muster finden würden, wenn wir sie Tag für Tag und Woche für Woche miteinander vergleichen. Und das haben wir auch geschafft! Die Labyrinth-Abschnitte wiederholen sich im Grunde ungefähr einmal im Monat. Aber ein Ausgang, der aus dem Quadranten rausführen würde, hat sich nie geöffnet. Wir haben noch keinen Ausgang gefunden.«
»Seit zwei Jahren macht ihr das«, sagte Thomas. »Wart ihr da nicht irgendwann mal so verzweifelt, dass ihr nachts draußen geblieben seid, um zu sehen, ob sich dann vielleicht irgendwo etwas öffnet, während die Mauern sich bewegen?«
Mit einem zornigen Blick sah Minho zu ihm hoch. »Das ist ’ne ganz schöne Beleidigung, Alter. Aber ehrlich.«
»Was?« Thomas war entsetzt – so hatte er das wirklich nicht gemeint.
»Wir reißen uns hier seit zwei Jahren den Arsch auf und dir fällt nichts Besseres ein, als uns vorzuwerfen, wir hätten zu viel Schiss, um über Nacht draußen zu bleiben? Am Anfang haben das einige versucht – alle waren hinterher tot, alle. Du willst unbedingt noch eine Nacht da draußen verbringen? Noch mal ausprobieren, wie groß deine Überlebenschancen sind?«
Thomas lief schamrot an. »Nein. ’tschuldigung.« Er fühlte sich wie Klonk. Und er musste natürlich zustimmen – er wollte viel lieber jeden Abend unversehrt auf die Lichtung zurückkehren, als sich einem weiteren Zweikampf mit den Griewern zu stellen. Bei dem Gedanken schauderte er.
»Von mir aus.« Zu Thomas’ Erleichterung wandte Minho den Blick ab und betrachtete wieder die Karten. »Das Leben auf der Lichtung ist vielleicht kein Zuckerschlecken, aber wenigstens sind wir in Sicherheit. Genug zu essen, Schutz vor den Griewern. Es ist ausgeschlossen, dass wir den Läufern sagen, sie sollen die Nacht draußen verbringen – viel zu gefährlich. Zumindest momentan noch. So was machen wir erst, wenn die Muster uns irgendeinen Hinweis darauf geben, dass sich ein Ausgang öffnen könnte, auch wenn es nur für ganz kurze Zeit wäre.«
»Und habt ihr schon eine Fährte, die ihr verfolgt?«
Minho zuckte die Achseln. »Weiß nicht. Ist ziemlich deprimierend, aber wir wissen nicht, was wir sonst tun sollen. Wir müssen davon ausgehen, dass sich irgendwann, an irgendeiner Stelle, vielleicht doch ein Ausgang auftut. Wir dürfen nicht aufgeben. Niemals.«
Thomas nickte erleichtert über diese Einstellung. So deprimierend die Situation auch war: Aufgeben würde alles nur noch schlimmer machen.
Minho zog mehrere Blatt Papier aus der Kiste, die Karten der letzten Tage. Er blätterte sie durch und erklärte: »Wir vergleichen jeden Tag mit dem vorangegangenen, Woche mit Woche, Monat mit Monat, genau wie ich schon gesagt hab. Jeder Läufer ist verantwortlich für die Karte seines eigenen Abschnitts. Wenn ich mal ganz ehrlich sein soll: Einen Klonkdreck haben wir bisher rausgefunden. Und noch ehrlicher – wir wissen nicht mal, wonach wir suchen sollen. Es ist zum Kotzen. Total zum Kotzen.«
»Aber wir dürfen nicht aufgeben.« Thomas sagte das ganz beiläufig, wie eine Art resignierte Wiederholung dessen, was Minho kurz zuvor gesagt hatte. Ohne jedes Nachdenken hatte er »wir« gesagt – ihm wurde klar, dass er jetzt mit Haut und Haar einer der Lichter war.
»Recht so, Bruder. Wir dürfen nicht aufgeben.« Sorgfältig legte Minho die Karten zurück, schloss die Truhe und stand auf. »So. Jetzt müssen wir aber wirklich einen Zahn zulegen, weil wir hier drin ’ne Menge Zeit vertrödelt haben. Die ersten Tage folgst du mir einfach nur. Bist du bereit?«
Nervosität packte Thomas und drückte ihm auf den Magen. Jetzt war es so weit – jetzt gingen sie wirklich dort hinaus, kein langes Reden oder Nachdenken mehr. »Ähm … ja, schon.«
»Bei uns gibt’s kein ›Ähm‹. Bist du bereit oder nicht?«
»Ich bin bereit.«
»Dann laufen wir jetzt los.«
Sie liefen durch das Westtor hinein in Abschnitt acht und durch mehrere Gänge hindurch. Thomas rannte immer
Weitere Kostenlose Bücher