Die Auserwählten - Im Labyrinth (German Edition)
direkt neben Minho und wandte sich mit ihm nach rechts oder links, ohne auch nur nachdenken zu müssen. Das morgendliche Licht war relativ stark und ließ alles hell und frisch aussehen – den Efeu, die von Rissen durchzogenen Mauern, die Steinquader am Boden. Es würde noch Stunden dauern, bis die Sonne im Zenit stand. Thomas hielt mit Minho Schritt, so gut es ging, ab und an musste er einen kurzen Sprint einlegen, um wieder aufzuholen.
Schließlich gelangten sie an einen rechteckigen Einschnitt in einer ewig langen Nordwand, der wie eine Türöffnung ohne Tür aussah. Minho rannte einfach hindurch, ohne auch nur langsamer zu werden. »Das hier führt von Abschnitt acht – dem Quadranten links in der Mitte – zu Abschnitt eins – dem Quadranten oben links. Ich hab’s ja schon erklärt: Der Durchgang ist immer an derselben Stelle, aber der Weg hierher kann sich ändern, je nachdem, wie die Wände sich verschoben haben.«
Thomas folgte ihm, überrascht, wie stark er bereits keuchte. Er hoffte, dass er nur aus dem Takt gekommen war und seine Atmung sich bald wieder normalisieren würde.
Sie bogen nach rechts in einen langen Gang, vorbei an mehreren Abzweigungen linker Hand. Als sie am Ende des Gangs ankamen, verlangsamte Minho das Tempo, fasste im Gehen nach einer Seitentasche an seinem Rucksack und zog einen Notizblock und Stift heraus. Er machte eine kurze Notiz und steckte beides zurück, ohne richtig stehen zu bleiben. Thomas hätte gern gewusst, was er da aufgeschrieben hatte, aber Minho kam ihm mit der Antwort zuvor.
»Meistens … verlass ich mich auf mein Gedächtnis«, keuchte der Hüter, dessen Stimme die Anstrengung nun auch ein klein wenig anzuhören war. »Aber ungefähr an jeder fünften Kehre … schreib ich was auf, das hilft mir später. Meistens hat’s was mit gestern zu tun – was heute anders ist. Dann kann ich die Karte von gestern als Anhaltspunkt für die von heute nehmen. Kinderspiel.«
Thomas war fasziniert. So, wie Minho das beschrieb, klang es wirklich einfach.
Sie joggten weiter, dann kamen sie an eine Weggabelung. Sie hatten drei Möglichkeiten, aber Minho wählte die rechte ohne jedes Zögern. Dabei zog er eins seiner Messer aus der Tasche und schnitt, ohne aus dem Tritt zu kommen, eine lange Efeuranke von der Wand ab. Er warf sie hinter sich auf den Boden und rannte weiter.
»Brotkrumen?«, fragte Thomas, in dessen Kopf auf einmal das alte Märchen aufgetaucht war. Diese seltsamen Blitze aus der Vergangenheit erstaunten ihn mittlerweile kaum noch.
»Genau, Brotkrumen«, antwortete Minho. »Ich bin Hänsel, du bist Gretel.«
Weiter ging’s, immer tiefer ins Labyrinth, manchmal wandten sie sich nach rechts und manchmal nach links. An jeder Kehre schnitt Minho ein ungefähr ein Meter langes Stück Efeu ab und warf es auf den Weg. Thomas war schwer beeindruckt – Minho verlangsamte dabei noch nicht mal sein Tempo.
»Na gut«, jetzt atmete der Hüter etwas mühsamer. »Du bist dran.«
»Was?« Thomas hatte nicht erwartet, dass er am ersten Tag außer Laufen und Zuschauen etwas tun würde.
»Du schneidest den Efeu ab – du musst dich dran gewöhnen, es im Vorbeilaufen zu machen. Auf dem Rückweg werfen oder treten wir ihn zur Seite.«
Thomas war froh, dass er selbst etwas tun durfte, auch wenn es eine ganze Weile dauerte, bis er richtig gut wurde. Die ersten paar Male musste er Minho hinterhersprinten, nachdem er den Efeu abgeschnitten hatte, und einmal schnitt er sich sogar in den Finger. Aber beim zehnten Versuch konnte er die Aufgabe fast so gut erledigen wie Minho.
Immer weiter ging es. Nachdem sie eine ganze Weile gejoggt waren – wie lang oder wie weit, wusste Thomas nicht, er schätzte aber, um die fünf Kilometer –, verlangsamte Minho sein Tempo zum Gehen, dann blieb er stehen. »Pause.« Mit einem Schwung nahm er den Rucksack ab und holte Wasser und einen Apfel heraus.
Thomas ließ sich nicht lange bitten, sondern machte es Minho nach. Er schüttete sich das Wasser in den Rachen und genoss das herrlich kühle Nass in seiner ausgetrockneten Kehle.
»Hey, nicht so viel«, japste Minho. »Heb dir noch was für später auf!«
Thomas setzte die Flasche ab, atmete tief und zufrieden ein und rülpste. Er biss in seinen Apfel und fühlte sich jetzt schon erstaunlich erholt. Dann fiel ihm der Tag ein, an dem Minho und Alby losgezogen waren, um sich den toten Griewer anzusehen – der Tag, an dem alles den Bach runtergegangen war. »Du hast mir noch nie
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