Die Auserwählten
Breitengrade navigieren?«
»Vielleicht.«
Niels drehte den Zündschlüssel. Das kleine Auto startete fast lautlos. Hannah schaltete das GPS ein und sah für weitere Instruktionen zu Niels hinüber. Das wird ein weiter Weg, dachte er, als er aus der Parklücke fuhr und beinahe einen Lastwagen rammte.
***
Jagtvej. Wieder so ein Name, der bei jedem Kopenhagener Polizisten Assoziationen an Jugenddemos und Straßenschlachten weckte. Stimmungen, die in früheren Zeiten um sich greifen und unzufriedene Bevölkerungsschichten mitreißen konnten, bis sie schließlich zu Revolten und zum Sturz von Regierungen und Königen führten. Doch das war heute anders. Die Zeit der Revolutionen war vorüber. Als die Monarchie in Dänemark abgeschafft werden sollte, nahmen weniger als zehntausend Menschen an einer ruhigen Prozession zum Schloss teil. Und die Klimademonstranten, die so zahlreich nach Kopenhagen gekommen waren, durften sich heute als Resultat ihrer Mühen wohl nicht mehr erwarten als eine üble Erkältung, obgleich – wie ein Radiokommentator gesagt hatte – in ganz Kopenhagen mehr als einhunderttausend Menschen an Happenings und Demonstrationen teilnahmen.
Niels schüttelte den Kopf. Eine Million Menschen auf den Londoner Straßen hatten Tony Blair nicht davon abhalten können, Soldaten in den Irak zu schicken. Wie sollten da einhunderttausend Klimademonstranten Einfluss auf die Welttemperatur nehmen können?
»Funktioniert es?«
Hannah bearbeitete unsicher den Touchscreen.
»Ist das kompliziert?«
Sie sah ihn beleidigt an.
»Niels! Mit vier Jahren konnte ich Gleichungen zweiten Grades lösen, weshalb mein Mathematiklehrer mich dann zum Niels-Bohr-Institut geschleppt hat, wo man meinen IQ berechnet hat. Der liegt irgendwo bei 150.«
»Ich habe ja nur gefragt.«
Schweigen. Sie betrachtete den kleinen Bildschirm. »So, der wäre dann so weit. 55 413. Wir müssen noch ein bisschen nach Süden.«
»Nach Süden?«
»Eigentlich nach Südwesten.«
Der Verkehr stand still wie auf einer Fotografie. Wie immer auf dem Jagtvej. Früher war er einmal dem Hof vorbehalten gewesen für den Fall, dass die hohen Herren auf die Jagd gehen wollten. Aber nachdem die Straße für den Pöbel geöffnet worden war, hatte sie augenblicklich an Popularität gewonnen. In einer Hauptstadt, deren Planung gelinde gesagt zufällig und chaotisch war, bildete der Jagtvej eine befreiende Ausnahme: eine gerade Linie von der einen Seite der Stadt zur anderen. Von Nordhavnen nach Carlsberg. Niels bekam den Stau auf dem Jagtvej jeden Tag mit und hasste ihn, und gut für die Gesundheit war er bestimmt auch nicht. Überall wurde mit modernster Technologie die Konzentration der Abgase gemessen, gegen die jetzt alle demonstrierten. Die Luft auf dieser Straße war in etwa so ungesund wie die Luft in Mexiko City. In Japan würden die Menschen sicher weiße Gaze vor dem Mund tragen. Aber dies war weder Osaka noch Tokio. Dies war Kopenhagen, und hier kümmerten die Menschen sich nicht um die Luft, die sie atmeten. Niels zündete sich eine Zigarette an.
»Darf ich im Auto rauchen?«
»Es gibt einiges, was darauf hindeutet.«
»Ich kann sie auch einfach aus dem Fenster werfen.«
»Nee, nee, lass die mal an und gib mir auch eine.«
Niels drückte auf die Hupe.
»Wir kommen überhaupt nicht vorwärts«, sagte er.
»Nein.«
Er wollte die Spur wechseln, aber ein Idiot im Anzug, der sich in einem großen BMW versteckte, fuhr offensiv vor, um Niels den Platz zu nehmen. Wütend knallte Niels seine Polizeimarke an die Scheibe.
»Idiot!«
»Ist das nicht eine Einbahnstraße?«, fragte Hannah, als der BMW zurücksetzte, so dass Niels über die andere Spur in eine Seitenstraße einbiegen konnte.
»Hier. Nimm mein Telefon.«
»Wofür?«
»Hast du nicht gesagt, dass der nächste Mord potenziell an zwei verschiedenen Orten stattfinden kann?«
»Ja, hier oder in Venedig.«
»Ruf Tommaso an. Den mit dem seltsamen Nachnamen.«
»Di Barbara.«
»Sag ihm, dass … Nein. Gib ihm einfach die Koordinaten und erklär ihm, was du errechnet hast.«
Widerstrebend nahm Hannah das Telefon. Niels hatte bereits die Nummer gewählt. Hannah presste es ans Ohr.
»Anrufbeantworter.«
»Hinterlass eine Nachricht.«
»Was soll ich sagen?«
Niels sah Hannah ärgerlich an. Die Frau, die noch vor wenigen Augenblicken wie ein Zentrum der Kraft gewirkt hatte, wie eine Explosion aus Ideen, Gedanken und Berechnungen, war plötzlich zu einer stotternden Amateurin
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