Die Auserwählten
monochromes Schwarz-Weiß gehüllt. Nur die schwarzen Grabsteine ragten aus der weißen Fläche, was an ein Schachbrett erinnerte. Die kleineren Grabsteine waren die Bauern, die unbekannten Toten; Moos, Wind und Wetter hatten die Namen längst unkenntlich werden lassen. Hoch über ihnen reckten sich die Könige empor: H. C. Andersen, Søren Kierkegaard und Niels Bohr. Sie umgaben die Läufer und Türme; Schauspieler und Amtspersonen, die in ihrer Zeit bekannt waren, an die sich jetzt aber niemand mehr erinnerte. Und dann gab es noch diejenigen, die durch ihren morbiden Ausstieg aus dem Leben Unsterblichkeit erlangt hatten. Eine junge Witwe zum Beispiel, die vor ein paar Hundert Jahren lebendig begraben worden war. Niels erinnerte sich noch immer an die Geschichte, die die Pastorin erzählt hatte. Damals arbeiteten die Totengräber rund um die Uhr. Tagsüber begruben sie die Menschen, und nachts arbeiteten sie als Grabräuber. Als sie den Sarg der jungen Witwe öffneten, schlug sie die Augen auf. »Befreit mich aus diesem schrecklichen Ort«, schrie sie. Der Totengräber schlug ihr die Schaufel an die Stirn, nahm ihr den Schmuck ab und warf ihr Grab wieder zu. Viele Jahre später, als der Totengräber selbst im Sterben lag, hatte er den Mord gestanden. Und als man das Grab der Witwe in unserer Zeit öffnete, fand man sie von der Schaufel gezeichnet im Sarg liegen, ohne jeden Schmuck.
***
Hannah sah erleichtert aus, als sie den Friedhof verließen und wieder auf die Straße kamen. Sie überquerten die Nørrebrogade und folgten dann der Møllegade, vorbei am Literatur-Haus und dem Mosaisk Kirkegård. Der Schnee knirschte unter ihren Sohlen, und die Luft war beißend kalt. Beide schwiegen. Hannah blickte unablässig auf ihr GPS, bis sie plötzlich stehen blieb.
»Hier!«
»Hier?« Niels sah sich um. Was hatte er erwartet? Sicher kein altes, heruntergekommenes Mietshaus. Zwei Kinderwagen und ein Fahrradanhänger versperrten ihnen den Weg.
»Bist du dir sicher?«
»Fast«, antwortete sie unsicher. »Die Batterie ist am Ende. Die gibt keinen Saft mehr.«
»Und es war wirklich hier?«
»Ja, aber es gibt natürlich eine gewisse Unsicherheit. Also ein paar Meter mehr oder weniger.«
Niels ging ein paar Meter weiter. Das Haus stand allein. Rechts und links waren einmal andere Häuser angebaut gewesen, die inzwischen aber schon abgerissen worden waren. Das Einzige, was er sah, war ein verlassener, traurig aussehender Spielplatz.
»Ganz sicher bin ich mir nicht.« Hannah lief deutlich verunsichert im Kreis.
»Wie meinst du das?«
»Vielleicht sind es auch ein paar Hundert Meter. Wenn ich nur ein bisschen mehr Zeit gehabt hätte.«
»Das kann hier nicht der richtige Ort sein.«
Sie sah ihn an. »Womit hast du denn gerechnet?«
Niels schüttelte den Kopf. »Ich weiß es nicht. Vielleicht mit einem religiösen Fanatiker. Nehmen wir mal an, dein System ist richtig. Wer würde sich so etwas ausdenken?«
»Warum suchst du nicht nach dem Opfer?«
Niels zuckte mit den Schultern. »Das könnte doch jeder sein. Irgendwer, der hier zufällig vorbeikommt.«
Er warf einen Blick auf die Klingelschilder.
»Denk doch mal darüber nach, Niels. Also über diese mathematische Präzision.« Hannah lächelte bei dem Gedanken.
»Worauf willst du hinaus?«
»Lass es uns ein Phänomen nennen«, schlug sie vor.
»Ein Phänomen ?« Niels konnte Hannahs Freude an der Theorie nicht teilen. Stattdessen rief er Casper an.
»Casper? Niels Bentzon hier. Ich würde dir gern ein paar Namen nennen, könntest du die mal checken?«
Hannah sah Niels verwundert an, als er sämtliche Namen durchgab. »Carl Petersen, 2. rechts; Lisa O. Jensen, 2. links …« Plötzlich ging die Tür auf. Niels trat einen Schritt zurück, als ein alter Mann ihn zornig ansah.
»Was machen Sie hier?«
Niels machte sich nicht einmal die Mühe, seinen Ausweis herauszuholen.
»Polizei Kopenhagen. Gehen Sie weiter!«
Der Alte wollte den Mund öffnen, aber Niels kam ihm zuvor: »Nein, Sie müssen sich keine Sorgen machen. Gehen Sie weiter!«
Der Mann ging über die Straße davon, sah sich aber noch mindestens fünf Mal um. Casper hatte die Zeit bereits genutzt.
»Ich glaube, ich weiß, nach wem du suchst«, meldete er sich.
»Wer?«
»Carl Petersen, 2. rechts.«
»Ja? Was ist mit ihm?«
»Der hat 1972 ein Mädchen vergewaltigt und erwürgt und anschließend draußen am Damhussee vergraben. Seit 1993 ist der wieder frei, geboren ist er
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