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Die Auserwählten

Die Auserwählten

Titel: Die Auserwählten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: A. J. Kazinski
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»Grade teilt man in Minuten ein – also in Sechzigstel – und Sekunden. Und wie viel Gradsekunden es sind, hängt davon ab …«
    Niels fiel ihr ins Wort: »Hannah! Wie lange noch?«
    »Etwa zweitausendfünfhundert Meter.«
    Niels fuhr mit dem Wagen auf den Bürgersteig, zog die Handbremse an und nahm das GPS aus der Halterung.
    »Was tust du?«
    »Lass uns zu Fuß gehen.«
    ***
    Aus der Entfernung wirkten die Demonstranten beinahe ästhetisch; sie stellten ein Bild dar, das man schon Hunderte Male gesehen hatte, eine schnurgerade Menschenmenge, die dem Lauf der Straße folgte. Doch befand man sich unter ihnen, wirkte alles ganz anders. Niels hielt Hannahs Arm fest, als sie sich durch die Menschenmenge schoben. Hier drinnen, im Zentrum der Aktion, war die Stimmung geladen und unberechenbar. Es roch nach Alkohol. Niels begegnete dem Blick einer gepiercten Frau: Ihre Pupillen waren leicht geweitet, der Blick fern. Ihr konnte nichts passieren, sie würde nicht einmal die Schlagstöcke der Polizei spüren, sollte sie damit Bekanntschaft machen müssen. Von dieser Tatsache bekamen die Menschen zu Hause vor ihren Flachbildschirmen nichts mit: Häufig brauchte man zwei oder drei Beamte, um einen wütenden Autonomen in Schach zu halten, der sich mit einem bizarren Cocktail aus Starkbier und Designerdrogen zugedröhnt hatte. Schmerz empfanden sie so gut wie gar keinen mehr.
    Wo war Hannah? Sie war weg. Niels sah sich um. Überall nur schwarze Klamotten wie am Tag des Jüngsten Gerichts. Eine Riesentrommel versuchte, den Takt zu halten. Plötzlich sah Niels sie. Sie hatte Angst; ein besoffener Penner, der mindestens ein Jahrzehnt zu alt für diesen Aufmarsch war, hatte seinen Arm um sie gelegt und versuchte, mit ihr zu tanzen.
    »Niels!«
    Er schob sich gegen den Strom durch die Menschenmenge.
    »Heh!« Einer der Jungen hatte Niels am Kragen gepackt. »Ich kenne dich doch. Du bist doch eine Bulle! Du Bullensau!«, rief er und wollte es gleich noch einmal wiederholen, doch Niels stieß ihn weg. Der Junge verlor das Gleichgewicht und ging leicht und wie Sommertau zu Boden. Das Ganze war zum Glück so unspektakulär, dass Niels Hannah erreichen konnte, bevor er noch von weiteren erkannt wurde. Er nahm ihre Hand. Sie war trotz der Kälte ganz warm.
    »Alles in Ordnung?«
    »Ich will hier weg.«
    »Ich bring dich hier raus«, sagte Niels und warf einen Blick nach hinten. Der Junge war wieder auf den Beinen und sah sich suchend um. Seine Worte gingen aber im Lärm der Trommel unter: »Bullensau! Bullensau!«
    Kopenhagen war zu einer Stadt aus Wut geworden. Sogar auf der gelben Mauer des Assistens Kirkegårds hatten die Menschen ihren Frustrationen Ausdruck verliehen. Fuck war allem Anschein nach das Wort, das den Krisenzustand der Stadt am besten beschrieb. Die Welt trägt deinen Fußabdruck , stand über dem Eingang des Friedhofs. Schwungvoll in rotem Neon, freundliche Buchstaben, vielleicht eine weitere Klimabotschaft. Oder die einfache Wahrheit der Totengräber? Wir hinterlassen eine Spur, wenn wir uns beerdigen lassen.
    Als sie im Inneren des Friedhofs waren, brauchten sie eine Weile, um wieder ruhig atmen zu können.
    »Wir gehen diagonal durch, oder?«, fragte Niels.
    Hannah ließ ihren Blick über den Friedhof schweifen und sah dann zurück zu den Demonstranten.
    »Luftlinie, ist doch okay, oder?«
    »Ja, ja, klar.«
    Am liebsten hätte er wieder ihre Hand genommen.
    »Was sagt das GPS?«
    Er nahm es aus der Tasche. »Die Batterie ist schwach.«
    »Dann los.«
    Niels streifte ihren Ellenbogen mit seiner Hand. Ein kleines Zucken ging durch ihren Körper. Als wünschte sie sich, gehalten zu werden, umarmt. Dann fuhr ihm ein Gedanke durch den Kopf, den er früher hätte haben müssen: Lag Hannahs Sohn auf diesem Friedhof beerdigt?
    Kathrine hatte ihn vor ein paar Jahren zu einer Nachtwanderung hierher geschleppt. Die Teilnehmer hatten Fackeln bekommen und waren von Grab zu Grab gelaufen, während zwei Pastoren, ein Mann und eine Frau, abwechselnd über die Geschichte des Friedhofes berichtet hatten. Englischer Schweiß . An diesen bizarren Namen erinnerte er sich noch. Ein Virus, das vor über vierhundert Jahren vielen Tausend Kopenhagenern das Leben gekostet hatte. So viele waren daran gestorben, dass man einen neuen Friedhof hatte einrichten müssen. Seither waren alle berühmten Dänen hier beerdigt worden.
    »Was sagt das Gerät?«
    »Geradeaus!«, antwortete Hannah mit verbissener Miene. Der Schnee hatte den Friedhof in

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