Die Auserwählten
1951.«
59.
59.
Ospedale Fatebenefratelli, Venedig Tommaso vertäute das Boot gleich hinter dem Ambulanzboot, das vor dem überdachten Anleger dümpelte, und band an demselben Ring auch den Hund an. Man konnte mit dem Boot bis in den Innenhof des Hospizes gelangen, wo Tommaso sich jetzt befand. Der Hund bellte und wedelte mit dem Schwanz, als freute er sich darüber, weit entfernt vom Tierheim zu sein. Tommaso trat auf die glatten Marmorsteine und begann zu laufen. Als würde das noch einen Unterschied machen. Seine Mutter war tot, das hatten sie ihm gesagt. Er hatte die Nachricht erhalten, als er auf der Lazarettinsel angelegt hatte. Seit Monaten hatte er sich auf diesen Augenblick eingestellt – trotzdem versetzte ihm sein schlechtes Gewissen einen ungeahnt heftigen Stich. Er hätte bei ihr sein sollen .
Im Zimmer wartete der älteste der Mönche auf ihn. Er saß über seinen Rosenkranz gebeugt am Fenster und blickte auf, als Tommaso den Raum betrat. Machte er ihm im Stillen einen Vorwurf? Tommaso mochte ihn nicht; er war ganz und gar nicht wie Schwester Magdalena, die immer so liebevoll war, bereit, alles zu vergeben.
»Gut, dass Sie kommen«, sagte der Mönch.
Tommaso ging um das Bett herum. Seine Mutter sah aus wie immer.
»Wann?«
»Vor einer Stunde etwa.«
»War sie allein?«
»Schwester Magdalena hat sie noch besucht, bevor sie nach Hause ging. Als wir dann wieder nach ihr gesehen haben …«
Er hielt inne. Es war alles gesagt. Signora di Barbara war allein gestorben.
Die Tränen kamen unerwartet. Tommaso hatte geglaubt, das Weinen würde ihn erleichtern, aber so war es nicht. Manchmal schluchzte er lautlos, dann wieder rang er nach Luft und gab seinem Schmerz nach. Der Mönch stellte sich hinter ihn und legte Tommaso seine rechte Hand auf die Schulter. Er brauchte jetzt die Nähe eines Menschen.
»Ich wäre so gern bei ihr gewesen«, stammelte er.
»Sie ist still eingeschlafen. Das ist der beste Tod.«
Der beste Tod. Die Worte versuchten, in Tommasos verwirrtem Kopf einen Sinn zu finden.
»Der beste Tod«, wiederholte der Mönch.
»Ja.«
Tommaso ergriff die Hand seiner Mutter, sie war kalt. Die schmalen Finger, die ihr ganzes Leben so hart gearbeitet hatten, waren zu einer Faust geballt. Eine Münze fiel aus ihrer Hand auf die Bettdecke. Zehn Cent. Tommaso blickte verwundert zu dem Mönch hinüber, auch er hatte das Geld bemerkt. Tommaso drehte ihre Hand um und öffnete vorsichtig die Finger.
Zwei weitere Münzen waren darin versteckt: Fünfzig und zwanzig Cent.
»Warum hat sie Geld in der Hand?«
Der Mönch zuckte mit den Schultern. »Ich werde Magdalena fragen. Wir haben schon versucht, sie telefonisch zu erreichen. Bestimmt klappt es beim nächsten Mal.«
Tommaso nahm das Geld. Er wusste nicht, was er damit anstellen sollte, aber irgendwie schien der unerwartete Fund der Münzen seine Trauer zu dämpfen. Ein kleines Mysterium, das von dem Schmerz ablenkte. Warum hielt seine tote Mutter achtzig Cent in der Hand? Tommaso steckte das Geld in die Tasche und legte ihre Hand wieder zurück, die Handfläche zeigte nach unten.
60.
60.
Nørrebro, Kopenhagen
Bevor Niels an die Tür klopfte, schlug er Hannahs Kragen hoch.
»Sehe ich jetzt wie eine Polizistin aus?«, fragte sie.
Er lächelte. »Lass mich nur machen.«
Die Tür hatte kein Namensschild. Dafür hatte Carl seinen Namen mit Filzstift direkt auf das Holz geschrieben. Von drinnen waren Geräusche zu hören, trotzdem öffnete niemand. Niels knöpfte seine Jacke auf, damit er besser an seine Waffe kam.
»Polizei Kopenhagen, öffnen Sie die Tür!«
Er klopfte noch einmal laut mit der Faust an die Tür. Hannah sah entsetzt aus. Sie sollte nicht hier sein. Das war unprofessionell von ihm, das wusste er, doch gerade als er sie nach unten schicken wollte, öffnete ein ungepflegter Mann mit rot unterlaufenen Augen die Tür.
»Carl Petersen?«
»Was habe ich getan?«
Niels zeigte ihm seinen Dienstausweis. Carl sah ihn sich genau an. Das Foto war schon ein paar Jahre alt.
»Dürfen wir einen Augenblick hereinkommen?«
Petersen warf einen Blick über die Schulter, vielleicht eine letzte Einschätzung seines Elends, bevor er Fremden die Tür öffnete. Dann zuckte er mit den Schultern und ließ sie eintreten. Sie hatten es ja nicht anders gewollt. »Beeilen Sie sich ein bisschen, damit die Vögel nicht abhauen.«
Der Gestank, der ihnen entgegenschlug, war unerträglich. Essen, Urin, Tiere, Verfall. Zwei Zimmer, Küche, Bad. Aus
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