Die Auserwählten
Variationen, ausgeformt mit einer erschreckenden, atemberaubenden Virtuosität. Er konnte seinen Blick nicht von der Seite nehmen.
»Stimmt etwas nicht?«
Er starrte noch immer in das Buch.
»Niels?«
»Wer ist der Mann auf diesem Bild?« Erst jetzt hatte Niels sich so weit gefasst, dass er die Bildunterschrift unter dem Foto wahrnahm. »Patient. Rigshospital 1943. Worning Syndrome. «
»Ist das ein Däne?«
Niels blätterte durch das dicke Buch. Worning. War das ein Name? Gab es noch weitere Informationen? Aber er fand nichts und musste die Suche aufgeben. »Sonst steht hier nichts.« Er blickte auf. »Woher stammt dieses Buch?«
»Von diesem Dermatologen. Wo der das herhat, weiß ich nicht.«
»Ich muss wissen, woher dieses Buch stammt und wer dieser Patient ist. Ich muss das dringend wissen. Bitte. Sie müssen den Dermatologen anrufen und nachfragen.«
»Es ist Heiligabend.«
»Jetzt!«
»Moment.« Sie nahm Niels das Buch aus den Händen. Er wollte sich erst beschweren, ließ es dann aber bleiben.
Als sie aus dem Zimmer ging und die Tür hinter sich zuzog, machte sie reflexartig das Licht aus. Im Dunkeln musste er an Hannah denken.
Dann wurde es wieder hell.
Sie stand in der Tür.
»Habe ich das Licht ausgemacht? Das tut mir leid, entschuldigen Sie bitte.« Sie trat näher.
Niels versuchte, seinen Atem unter Kontrolle zu bekommen.
»Geht es Ihnen wieder schlechter? Wollen Sie etwas trinken? Einen Schluck Wasser?«
»Haben Sie ihn erreicht?«
»Ja. Er hat gesagt, Sie sollen ruhig bleiben – daran würde man nicht sterben.«
Sie lächelte. Niels zweifelte daran, dass sie wirklich mit dem Hautarzt gesprochen hatte. »Er kommt nach Weihnachten.«
Sie gab ihm das Buch zurück. »Wollen Sie noch mehr darin lesen?«
Niels betrachtete noch einmal das Bild und hoffte, es würde ihm jetzt etwas anderes zeigen. Ein dünner Körper. Die Arme zur Seite gestreckt. Er war für das Schwarz-Weiß-Foto aufgestanden. Das Worning Syndrom. Vielleicht war Worning ja der Name des Patienten.
Niels spürte, wie müde er war.
»Gibt es hier im Krankenhaus ein Archiv?«
»Ja, das gibt es, ein riesiges.«
»Waren Sie schon einmal da?«
»Zweimal in den letzten fünfzehn Jahren. Aber da gehen wir jetzt nicht runter. Sie brauchen Schlaf. Und auch Sie sollten ein bisschen Weihnachten genießen, nicht wahr, Niels?« Sie nahm ihm das Buch ab.
Niels gab aber noch nicht auf. »Der Mann auf dem Bild war hier in der Dermatologie in Behandlung. Er war ein Patient dieses Krankenhauses. Das steht da.«
»Aber wir haben nicht einmal einen Namen.«
»Worning. Worning Syndrom. «
»Worning kann doch auch der Arzt gewesen sein, der es zuerst entdeckt hat.«
Sie zog ihm die Decke bis über die Schultern. Wie eine besorgte Mutter.
8.
8.
Traumatologie, Rigshospital Agnes holte ein kleines Notizbuch hervor, aus dem sie vorlas. Über die Nahtoderlebnisse anderer Menschen.
»Nehmen wir das hier. Es handelt sich um eine verkürzte Version eines gut dokumentierten Nahtoderlebnisses aus den USA. Die Übersetzung habe ich selbst gemacht. Für die etwas unbeholfene Sprache müssen Sie sich also nicht bei Kimberly Clark Sharp beschweren.«
»Kimberly …«
»Kimberly Clark Sharp. Wir müssen zurück in die Siebziger. Sie ist damals von einer Sekunde auf die andere mit Herzstillstand auf dem Bürgersteig zusammengebrochen. Keine Atemaktivität. Kein Puls. Hören Sie: ›Das Erste, woran ich mich erinnere, waren die panischen Rufe einer Frau: ›Sie hat keinen Puls mehr, ich kann keinen Puls fühlen.‹ Dabei ging es mir gut. Wirklich gut. Ich hatte in diesem Moment wirklich das Gefühl, dass es mir niemals bessergegangen ist als gerade jetzt. In mir war eine Ruhe und Ausgeglichenheit, wie ich sie niemals zuvor gespürt hatte. Ich konnte nichts sehen, aber gehört habe ich alles. Die Stimme von jedem, der sich über mich gebeugt hat. Dann hatte ich das Gefühl, an einen anderen Ort zu kommen; einen Ort, an dem ich spürte, dass ich nicht allein war, ich konnte aber noch immer nicht klar sehen, um mich herum war dichter Nebel.‹«
Agnes blickte auf. »Soll ich weiterlesen?« Sie fuhr fort, ehe Hannah eine Antwort geben konnte. Hannah hatte die Alte unter Verdacht, dass sie an ihr einen simplen psychologischen Trick anwenden wollte: Indem sie Hanna die Nahtoderlebnisse der anderen hören ließ, wollte sie ihr das Gefühl vermitteln, dass es gar nicht so ungewöhnlich war, so etwas zu erleben – um Hannah so dazu zu verleiten, auch
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