Die Auserwählten
Heiligabend aufhalten konnte? Hannah wunderte sich nur, als Agnes das Bett in den Fahrstuhl schob.
»So weit, so gut. Sie sagen mir ja sofort Bescheid, wenn es Ihnen schlechter geht.« Die alte Frau lächelte sie an. Ein heiseres, fast lautloses Lachen, das ein langes Raucherleben erkennen ließ, kam über ihre aufgesprungenen Lippen. »Ich war Hebamme. Jetzt bin ich im Ruhestand. Bis vor zehn Jahren habe ich hier in der Geburtsklinik des Rigshospitals gearbeitet, bis man dann Krebs bei mir diagnostiziert hat. Die Ärzte haben mir seinerzeit höchstens noch zwei Jahre gegeben, und in diesen Jahren habe ich mich auf eine Sache gestürzt, die mich schon mein ganzes Leben in höchstem Maß interessiert hat. Dieses Interesse hat mich auch zu Ihnen geführt.«
»Autounfälle?«
»Nicht ganz. Nahtoderlebnisse.«
»Nah … tod?«
Die alte Frau nickte. »Vielleicht bin ich nur noch hier, weil ich mich so intensiv mit dem Tod beschäftigt habe. Man könnte fast sagen, der Tod hat den Krebs vertrieben.« Sie lächelte. »Auf jeden Fall hat er mich noch nicht in die Knie gezwungen. Klinge ich morbid? Sagen Sie es nur, wenn Sie in mir nur eine verrückte Alte sehen.«
»Nein.«
»Das wäre schon in Ordnung. Für mich hat es aber eine gewisse Logik, mich nach meiner Arbeit als Hebamme dem Thema Nahtoderlebnisse zu widmen. Die erste Hälfte meines Lebens habe ich darauf verwendet, Menschen auf die Welt zu helfen, die andere nutze ich nun, um vielleicht zu verstehen, was geschieht, wenn wir diese Welt wieder verlassen. Leben und Tod.«
Hannah betrachtete die Frau, die sich jetzt räusperte. Vielleicht wartete sie darauf, dass Hannah etwas sagte.
»Ich hatte kein Nahtoderlebnis.«
»Ich will Ihnen trotzdem zeigen, wo es geschehen ist. Wo Sie gestorben sind. Vielleicht hilft das Ihrer Erinnerung auf die Sprünge.«
Der Fahrstuhl kam im Erdgeschoss an, und Agnes schob das Bett heraus. Beide Hände fest um den Rand des Kopfteils gelegt, schob sie weiter. Hannah sah von unten auf ihren Kiefer, bis Agnes sie ansah und lächelnd sagte: »Lassen Sie mich Ihnen etwas über das Phänomen Nahtoderlebnis sagen. Wissen Sie, was ein Nahtoderlebnis ist?« Sie atmete tief durch. »Man kennt dieses Phänomen schon seit Urzeiten. Menschen, die tot waren, dann aber wieder aufgewacht sind und von ihren Erlebnissen berichtet haben.«
»Die letzten Zuckungen des Gehirns?«
»Vielleicht. Nur wenige haben das bisher ernst genommen. Meist wurde nur darüber gelacht. Aber da die Medizin besser und besser wird und immer mehr Menschen ins Leben zurückgeholt werden können, wissen wir nun auch mehr. Sogar Ärzte und Wissenschaftler haben begonnen, das Thema ernst zu nehmen. Haben Sie schon einmal von Elisabeth Kübler-Ross oder Raymond Moody gehört?«
»Vielleicht.«
»Zwei Ärzte, die in den siebziger Jahren bahnbrechende Forschungsergebnisse über das Phänomen erzielt haben. Ross und Moody meinen, dass es grundsätzlich neun Elemente gibt, die immer wieder in Verbindung mit Nahtoderlebnissen genannt werden. Rede ich zu schnell?«
»Ich bin Astrophysikerin.«
Agnes grinste. »Die neun Elemente sind: ein summendes oder klingelndes Geräusch; nachlassende Schmerzen; ein Erlebnis, als würde man aus seinem eigenen Körper heraustreten; das Gefühl, in rasender Fahrt durch einen dunklen Tunnel gezogen zu werden; das Gefühl, hoch über die Erde gehoben zu werden und den Erdball plötzlich wie von einem anderen Planeten zu sehen; die Begegnung mit Menschen, die irgendwie von einem inneren Licht durchströmt zu sein scheinen, oft bereits verstorbene Freunde oder Angehörige; und die Begegnung mit einer geistigen Kraft …«
»Gott?«
»Möglicherweise. Der Begegnung folgt oft ein kurzes Resümee des ganzen Lebens des Sterbenden. Wir nennen das: Das Leben passiert Revue. Und schließlich – und das ist vielleicht das Absonderlichste – folgt die Frage, ob sie ins Leben zurückkehren oder lieber dort bleiben wollen, wo sie jetzt sind.«
»Ob sie leben oder tot sein wollen?«
»So kann man das sagen, ja.«
»Und dann wählt der Großteil den neuen Ort?«
»Anscheinend.«
»Jetzt hören Sie aber auf. Das Leben nach dem Tod?«
»Laut Ross und Moody schon. Für sie gab es keinen Zweifel. Sie hielten es für einen Beweis, dass eine derart hohe Anzahl von Patienten über diese Erlebnisse berichtet hatte. Die Skeptiker standen natürlich bereits parat. Einer von ihnen war der bekannte Herzspezialist Michael Sabom. Sabom führte seine eigenen
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