Die Auserwählten
vertieft, über eine gepflasterte Straße spazieren. Das Foto war 1927 bei dem Solvay-Kongress in Brüssel entstanden.
Niels Bohr hatte selbst die Idee für dieses Institut gehabt. Er hatte für die Finanzierung gesorgt und selbst die Richtlinien vorgegeben, nach denen im Institut gearbeitet werden sollte. In den Jahrzehnten nach seiner Gründung 1921 war das Institut so etwas wie der Nabel der Welt für die theoretische Physik gewesen. Es war bezeichnend, dass es in all diesen Jahren schlichtweg unmöglich gewesen war, den Menschen Niels Bohr und das Niels-Bohr-Institut getrennt voneinander zu betrachten. Das Institut war der Mittelpunkt seines Lebens, hier wohnte er mit seiner Familie, und hier arbeitete er. Unterrichtete, forschte und hielt Konferenzen für die führenden Physiker der Welt ab. Wenn Hannah Bilder aus jener Zeit sah, verschlug es ihr den Atem, und sie fragte sich jedes Mal, ob ihre Zeitgenossen sich überhaupt im Klaren darüber waren, welch geniale Wissenschaftler bereits über diese Flure gelaufen waren.
Sie stieg die Treppe hinauf und lief an Niels Bohrs altem Büro vorbei. Die Tür stand einen Spaltbreit offen. Sie war schon oft in diesem Raum gewesen und sah hinein. Sie fühlte sich in eine andere Zeit versetzt: der ovale Tisch. Die Büste von Einstein. Hannah atmete tief durch, als hoffte sie wie ein Kind darauf, wenigstens ein Milligramm von Bohrs Genialität in ihre Lungen einsaugen zu können. Die könnte sie jetzt wirklich gut brauchen.
Mittagspause. Es war still auf den Fluren. Sie ging in den Hörsaal. Das Auditorium sah noch immer aus wie zu Bohrs Zeiten. Mit harten Holzbänken und der charakteristischen Tafel, die wie ein trickreiches chinesisches Schachtelsystem ausgeformt war, so dass hinter jeder Tafel neue auftauchten. Das Auditorium war Teil des dänischen Kulturerbes und stand unter Denkmalschutz. An den Wänden hingen Fotografien, die in diesem Hörsaal gemacht worden waren. Ein berühmtes Bild von Bohr, der mit den absoluten Topgrößen der Naturwissenschaften an einem Tisch saß: Oskar Klein, Lev Davidovich Landau, Wolfgang Pauli, Werner Heisenberg.
Hannah stellte den Karton auf den länglichen Tisch und breitete den Inhalt vor sich aus. Sie starrte auf die Ausdrucke und Notizen. Auf die Weltkarte, die sich über sie lustig zu machen schien. »Kannst du dir das wirklich nicht ausrechnen?«, fragte sie sich laut. »Du musst bloß das System finden, dann klärt sich alles von selbst.«
Ganz leise hörte sie den Verkehr, der draußen vor den Toren des Instituts pulsierte. Sie legte die Unterlagen der einzelnen Fälle beiseite und konzentrierte sich ganz auf die Karte. Nur hier konnte sie das System finden, das wusste sie. Ihr Blick hing an den Nadeln in den Tatorten, die rein zufällig platziert zu sein schienen. Einige lagen an den Küsten, andere im Inland. Dann studierte sie die Daten der Morde. Gab die Reihenfolge etwas her? Die zeitlichen Abstände? In den …
Hannah trat ans Fenster. Es würde bald Schnee geben. Grauweiße Wolken hingen am Himmel, und Raureif hatte sich auf die kleinen Dornen gelegt, die die Tauben vom Fenstersims fernhalten sollten. Unter ihr eilten Passanten über die Straße. Ein Bus hielt, und Fahrgäste stiegen aus. Eine ältere Frau rutschte auf dem eisigen Bürgersteig aus und stürzte. Sie lächelte dankbar, als ihr aufgeholfen wurde, es war nichts geschehen. Hannah stand wie eine Zuschauerin da und blickte auf … Menschen .
Menschen. Der Mythos handelte von Menschen. Sechsunddreißig Menschen, die auf die anderen Menschen aufpassen. Auf uns. Menschen im Gegensatz zu … was? Erde? Wasser? Hannah ging resolut zur Tür, betrat das leere Sekretariat und nahm eine Schere aus der Schreibtischschublade. Zurück im Auditorium kam sie vor der Karte ins Grübeln. Sie ließ sie liegen und zog stattdessen die große Weltkarte herunter, die auf einer Rolle vor der Tafel hing. Sie schob ein kleines Schränkchen unter die Karte und kletterte darauf. Es gab keine andere Möglichkeit – sie brauchte große Kontinente, wenn sie Platz für ihre Nadeln haben wollte. Als sie begann, die Karte von der Rolle zu schneiden, dachte sie: Was tue ich hier eigentlich? Ich kann doch nicht Niels Bohrs alte Karte zerschnippeln. Gleichzeitig spürte sie aber, dass er ihr Vorgehen billigen würde; praktische Details durften einem nicht im Weg stehen, wenn man das Gefühl hatte, auf dem richtigen Weg zu sein.
39.
39.
Heiliggeistkirche, Kopenhagen
Die Tür der Kirche
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