Die Auserwählten
Einundzwanzig ermordete Menschen. Alle zwischen vierundvierzig und fünfzig. Kinderlos. Das musste eine Bedeutung haben.
Sie begann, alle Papiere in einen Karton zu stapeln. Das Fax, die Notizen, die Karte. Erst hatte sie nur Zigaretten holen wollen, doch jetzt entschloss sie sich, das gesamte Material mitzunehmen. Sie versuchte, Niels zu erreichen, um ihm zu sagen, wohin sie fuhr, er ging aber nicht ans Telefon.
Als sie aus dem Ferienhaus trat, schlug ihr die Kälte entgegen und wehte wie ein frischer Wind durch ihren Kopf. Hannah kam viel zu wenig raus. Es gab Wochen, in denen sie nur selten hinunter ans Wasser oder zum Einkaufen ging. Den Rest der Zeit saß sie im Haus und … Und was? Sie wusste es nicht einmal. Vielleicht war das das Allerschlimmste: Es gab Tage, viele Tage, an denen sie abends ins Bett ging, ohne auf irgendetwas zurückblicken zu können, das sie an diesem Tag gemacht hatte. Vielleicht war es diese Erkenntnis, die aus dem einfachen Ins-Auto-steigen-und-auf-die-LandstraßeFahren etwas machte, das sich wie eine kleine Revolution anfühlte.
35.
35.
Synagoge, Kopenhagen Niels stand auf. Er fühlte sich unwohl, weil Weizman sitzen blieb, doch dann erhob sich endlich auch der Rabbi.
»Haben die sechsunddreißig irgendein besonderes Kennzeichen? Etwas, das sie verbindet?«
»Nur ihre Gerechtigkeit. Das, was sie zu guten Menschen macht, wie Sie das ausgedrückt haben. Ist das nicht genug?«
Niels zögerte. Es war nicht wirklich genug. »Können Sie Personen benennen, die zu den sechsunddreißig gehört haben sollen?«
Weizman zuckte mit den Schultern. »Es kommt nicht selten vor, dass so etwas bei Beerdigungen angesprochen wird. Wenn man einem Toten huldigen will, jemandem, der für viele Menschen eine große Bedeutung hatte.«
»Wenn Sie jemanden nennen müssten?«
»Ich weiß es nicht. Ich bin nicht sicher, dass meine Vermutungen besser sind als Ihre. Aber als Jude denkt man natürlich schnell an den Zweiten Weltkrieg zurück. Oskar Schindler. Die Widerstandskämpfer in den besetzten Ländern. Die Einzelpersonen, die die totale Vernichtung der Juden verhindert haben. Aber wie gesagt, Ihre Vermutungen sind so gut wie meine.«
Er sah Niels an. Ein dunkel gekleideter Mann mit Hut betrat die Synagoge und grüßte Weizman.
»Ich habe jetzt gleich einen Termin. Ich hoffe, ich konnte Ihnen helfen?«
»Ein bisschen. Danke für das Gespräch.«
Der Rabbiner begleitete Niels zur Tür und gab ihm die Hand.
»Jetzt sind Sie nur zwei Händedrücke von Hitler entfernt«, sagte der Rabbi und hielt Niels’ Hand fest.
»Das verstehe ich nicht.«
»Auf einer Konferenz in Deutschland habe ich einmal einen Offizier interviewt, der für Hitler gearbeitet hat. Als ich ihm die Hand gab, dachte ich: ›Jetzt bin ich einen Händedruck von Hitler entfernt.‹«
Er ließ die Hand nicht los. »Sie sind demnach jetzt nur zwei Händedrücke vom Bösen entfernt, Niels Bentzon.«
Pause. Seine Hand wurde in der des Rabbis langsam warm.
»Vielleicht verhält es sich mit der Güte ja auch nicht anders. Wir sind nie weit vom Guten entfernt. Und das ist inspirierend. Denken Sie an Nelson Mandela. Ein Mensch, der ein ganzes Land geändert hat. Wie Gandhi. Oder euer Jesus.«
Er lächelte. »In Südafrika sagt man, dass jeder jemanden kennt oder getroffen hat, der schon einmal Mandela begegnet ist. Keiner ist weiter als nur einen Händedruck vom großen Anführer entfernt. Da liegt der Gedanke, dass es bloß sechsunddreißig Menschen braucht, um das Übel in Schach zu halten, doch gar nicht mehr so fern. Denken Sie daran, dass alle Veränderungen in der Weltgeschichte, gute wie schlechte, von Einzelnen ausgegangen sind.«
Jetzt gab er Niels’ Hand frei.
***
Das Licht blendete. Die Kälte war hartnäckig. Aber wenigstens hatte Niels das Gefühl, wieder zurück in seiner eigenen Welt zu sein. Plötzlich wusste er nicht mehr, was er mit seinen Händen anstellen sollte. Die Bilder von Hitler hatten sich mit grausamer Effektivität eingebrannt. Er steckte die Hände in die Taschen, legte den Kopf in den Nacken und betrachtete die Synagoge, als es schwach im Jackenfutter vibrierte. Das Handy. Als er es herausholte, sah er, dass Rosenberg ihn sechsmal anzurufen versucht hatte.
»Bentzon.«
»Rosenberg hier!«
Hektischer Atem. »Ich glaube, bei mir ist eingebrochen worden, da ist ein Mann.«
»Sind Sie in der Kirche?«
»Ja. Ich habe mich im Büro eingeschlossen. Aber die Scheibe ist aus Glas.«
»Sind Sie sicher,
Weitere Kostenlose Bücher