Die Auserwählten
dass jemand da ist?«
»Die Tür war aufgebrochen.«
»Haben Sie die 112 angerufen?«
Statt einer Antwort hörte er nur Lärm. Möglicherweise war ihm das Telefon aus der Hand gerutscht.
»Rosenberg?«
Plötzlich war der Pastor wieder da, flüsternd: »Ich kann ihn hören.«
»Bleiben Sie, wo Sie sind. Ich kann in …«
Niels warf einen Blick auf die Straße. Der Verkehr stockte. Er sollte Verstärkung rufen, tat es aber nicht. Es kam auf jede Sekunde an. Er begann zu laufen.
»Ich bin in drei Minuten da!«
36.
36.
Dark Cosmology Centre, Universität Kopenhagen
Dafür, dass das Gebäude gleich mehrere internationale Wissenschaftler beherbergte, die die dunkle Seite des Universums studierten, war das Dark Cosmology Centre von den Außenlampen erstaunlich hell beleuchtet. Hannah stieg aus dem Auto. Die Jahre, die seit Johannes’ Tod, Gustavs Verschwinden und der Beerdigung ihrer vielversprechenden Akademikerkarriere vergangen waren, hatten an dem Gebäude keine einzige Spur hinterlassen. Ein Gedanke, der gleichermaßen erschreckend wie motivierend war. Sie nahm den Karton von der Rückbank und ging ins Institut. Ein paar junge Forscher oder Studenten liefen auf der Treppe an ihr vorbei, nahmen aber keine Notiz von ihr. Hannah betrat die zweite Etage, in der ihr altes Büro gelegen hatte. Auf dem Flur war niemand zu sehen. Mittagspause. Sie ging zu dem ihr so vertrauten Raum und trat, ohne anzuklopfen, ein.
Obgleich nur ein Sekundenbruchteil verging, bis sie Augenkontakt mit dem jungen Wissenschaftler am Schreibtisch bekam, fühlte sie sich, als würde sie nach Hause kommen. Sie erkannte den Geruch, die Geräusche, die etwas stickige, aber heimelige Atmosphäre wieder. Es hingen sogar noch ein paar von den alten Plakaten an den Wänden, und auch die Regale waren noch immer dort, wo sie früher gestanden hatten. »Entschuldigung?«, sagte der junge Wissenschaftler, obwohl er sich für nichts zu entschuldigen hatte. »Haben wir einen Termin?«
Hannah ließ ihren Blick weiter durch den Raum schweifen. Eine Fotografie von zwei kleinen Mädchen. Eine Zeichnung über einem Computer. »Für Papa von Ida und Luna«, stand mit Kinderschrift darunter.
»Suchen Sie jemanden?«, fragte er.
»Das ist mein Büro.« Die Worte rutschten einfach so aus ihr heraus.
»Ich glaube, das muss ein Missverständnis sein. Ich bin seit zwei Jahren hier.« Er stand auf. Sie dachte schon, er sei wütend, doch dann reichte er ihr die Hand und sagte: »Thomas Frink. Ich schreibe hier meine Doktorarbeit.«
»Ich heiße Hannah. Hannah Lund.«
Er musterte sie, als überlegte er, woher er ihren Namen kannte. Irgendwie schien ihm etwas zu dämmern.
»Worüber haben Sie gearbeitet?«
»Dunkle Materie.«
»Ich erforsche die kosmischen Explosionen.«
»Thomas, haben Sie einen Augenblick Zeit?«
Hannah erkannte die Stimme hinter sich.
Ein älterer Mann stand in der Tür. Er hatte hochgezogene Schultern, einen krummen Rücken und einen kindlichen Ausdruck in seinen Augen.
»Hannah?« Der alte Professor sah sie verblüfft an. »Ich dachte, du wärest …«
»Holmstrøm?«
Er nickte und umarmte sie ungeschickt. Sein Bauch war runder geworden. Plötzlich sah er sie beinahe streng an.
»Denk gut nach, bevor du mir verrätst, was du jetzt so treibst. Es muss schon etwas verdammt Wichtiges sein, damit ich entschuldige, dass du nicht mehr hier bist.«
»Das ist eine lange Geschichte.« Sie hob abwehrend die Hände. »Und wie geht es dir?«
»Na ja, geht so, sieht man davon ab, dass wir zusammenschrumpfen. Das Geld geht in die Umweltwissenschaften. Du brauchst bloß das Wissenschaftsministerium anzurufen und das Wort ›Klima‹ zu flüstern – meinetwegen mitten in der Nacht –, und schon fließen die Millionen.« Er grinste. Das sagte er nicht zum ersten Mal. »Das Geld steckt im wahrsten Sinne des Wortes im Klima.«
»Und die Stimmen der nächsten Wahl auch«, fügte Thomas Frink hinzu und blickte auf seinen Computerbildschirm.
»Das Klima.« Hannah sah Holmstrøm voller Ernst an. »Die haben die falschen Götter.«
»Was für Götter?«
»Sich selbst.« Sie lächelte.
Alle schwiegen. Dann brach Holmstrøm das Schweigen.
»Du hast einen Karton dabei?« Er nickte in Richtung der braunen Pappkiste.
»Ja.«
Er wartete. Bestimmt ging er davon aus, dass sie ihn in den Inhalt des Kartons einweihte. Doch stattdessen fragte sie:
»Weißt du, ob das Auditorium, drüben in der alten Abteilung, frei ist?«
37.
37.
Innenstadt,
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