Die Auserwahlte
bis zu jenem Punkt, an dem die Zahl der Gegner, die sich ihr in den Weg stellten, zu groß geworden wäre, als daß sie sich ihrer noch hätte erwehren können. Und selbst wenn sie es irgendwie geschafft hätte, so würde der Sippenführer inzwischen Lunte gerochen und sich abgesetzt haben.
Nein, der gewählte Weg war nicht nur der einfachere, sondern auch der sicherste .
Nach wie vor zwischen den beiden Chinesen eingeklemmt, die sie abwechselnd voranzerrten und -schubsten, kam Lilith sich vor wie in einem Labyrinth, das viel weniger gebaut als gewachsen oder mehr noch gewuchert schien. Kein Architekt, der auch nur halbwegs bei Verstand war, konnte solche Konstruktionen ersinnen, wie sie in diesem Gebäude vorzufinden waren.
Manche Winkel schienen Lilith schlicht unmöglich, die Treppenstufen waren nicht nur unterschiedlich hoch, sondern auch noch schief, und manche Gänge führten nicht einfach nur tiefer in das vielstöcki-ge Haus hinein, sondern schraubten sich geradezu in sein Inneres.
Lilith wußte nicht, wohin man sie brachte - ob man sie direkt den Vampiren, deren gequältes Stöhnen wie ein nie verstummender Chor; mal lauter, mal leiser, durch die Flure wehte, zum Trunke vorwerfen oder erst dem Anführer vorführen würde. Sie hoffte auf letzteres.
Die Möglichkeit, daß man sie kurzerhand in ein kleines Zimmer sperren würde, um sie zur Prostitution zu zwingen, ließ sie außer acht. Einen Körper wie den ihren würden die Blutsauger mit niemandem teilen. Da war sie sicher.
Schließlich, nach scheinbar endlosem Umherirren, zwangen ihre Aufpasser Lilith vor einer Tür zum Halten. Die handgeschriebene Bitte »hoi k'ei«* auf dem Türblatt galt für sie nicht. Ohne anzuklopfen öffnete einer der beiden Hypnotisierten die Tür, und der andere versetzte Lilith einen Stoß, der sie über die Schwelle taumeln und stürzen ließ. Dabei stieß sie sich irgendwo den Kopf, und für zwei oder drei Sekunden kehrten die Schatten zurück.
Gerade lange genug, um einer fremden Stimme Zeit zu geben zu sagen: »Geht! Laßt uns allein!«
Die Tür wurde geschlossen, und der dumpfe Laut, mit dem sie ins Schloß fiel, war für Lilith so etwas wie ein Signal, den Kopf wieder zu heben und sich vorsichtig zumindest auf Hände und Knie hochzuarbeiten.
*»nicht stören«, wie Lilith, die jede Sprache und Schrift der Welt verstand, entzifferte Gerade eben war alles so schnell vonstatten gegangen, daß sie keine Gelegenheit gefunden hatte, sich den Raum anzusehen. Das holte sie jetzt nach, und obwohl sie nicht wußte, was sie eigentlich erwartet hatte, wurde sie doch überrascht.
Das Zimmer war schlauchförmig angelegt, ähnelte einem nicht einmal sehr breiten Gang, und seine Einrichtung erinnerte an die eines Tempels. Es war fast zur Gänze vollgestopft mit altarähnlichen Dingen, Schreinen, Bildern und Schrifttafeln. Offenen Schalen entstiegen Dämpfe, manche farblos und beinahe unsichtbar, andere schreiend bunt.
Lilith entsann sich daran, mit Beth einmal in einem China-Restaurant gewesen zu sein, und sie hatten sich beide über die dort vorherrschende Kitsch-Kultur lustig gemacht. Dies hier jedoch übertraf den damaligen Anblick noch - nur wirkte er kein bißchen kitschig, sondern nur geheimnisvoll. Und gefährlich. Ohne daß Lilith auch nur eine Ahnung davon hatte, woher sich ihr dieser Eindruck aufdrängte.
Denn auch die einzige Person, die sich außer ihr noch im Raum befand, wirkte keineswegs bedrohlich.
Der Mann war für einen Chinesen auffallend groß und von geradezu athletischer Statur, die auch seine weitfallende dunkle Kleidung nicht kaschierte. Sein lackschwarzes Haar fiel ihm bis auf die Schultern, und sein Gesicht fand Lilith solange anziehend, bis er die Lippen spaltbreit öffnete - - und zwei dolchartig gekrümmte Eckzähne sehen ließ!
Einmal mehr fühlte Lilith sich schmerzlich daran erinnert, daß sie ihre Fähigkeit, Vampire - zumindest auf geringe Entfernung - zu spüren und zu erkennen, verloren hatte.
Daß der vampirische Anteil ihn ihr von ihrem Stiefvolk jedoch nach wie vor erkannt wurde, bewiesen die Worte ihres Gegenübers:
»Wer bist du? Welcher Sippe gehörst du an?«
Das abseitige Lächeln, das sich auf seine Züge legte, erinnerte Li-lith ein klein wenig an das Bild eines Drachen, das hinter ihm an der Wand hing.
Als sie nicht sofort antwortete, fuhr er fort: »Aber was mich noch viel mehr interessiert ...« Er setzte eine winzige Pause, in der Mißtrauen und etwas Fragendes in sein
Weitere Kostenlose Bücher