Die Ausgelieferten
Macht in Lettland von einem deutschen Soldatenrat mit Sitz in Riga ausgeübt.
Am 11. November erkannte Großbritannien Lettland de facto als selbständigen Staat an. Am 18. November wurde ein freies Lettland proklamiert.
Das folgende Jahr war voller Wirren. Lettische Schützenregimenter hatten aktiv an der russischen Revolution teilgenommen; sie waren praktisch die einzigen regulären Verbände gewesen, über die die Bolschewiken hatten verfügen können. Mit ihren zwanzigtausend Mann waren diese lettischen Schützen eine nicht zu unterschätzende Streitmacht. Nach dem Zusammenbruch Deutschlands fiel eine russische Truppe von sechstausend Mann, die hauptsächlich aus lettischen Schützen bestand, in Lettland ein, um es vor dem Zugriff ausländischer Interessen zu schützen. Am 17. Dezember wurde ein rotes, unabhängiges Sowjetlettland ausgerufen, und im Januar 1919 standen die lettischen Schützen in Riga. Zur gleichen Zeit hatten die Deutschen Freikorps gebildet, reguläre deutsche Truppen hielten auch noch einige Gebiete besetzt, vor der Küste lag ein englischer Flottenverband, und von der Landbevölkerung war eine bedeutende Heimwehr erstellt worden. Der Widerstand gegen die eindringenden lettisch-russischen Truppen wurde fast ausschließlich von reichsdeutschen Verbänden geleistet, die von deutsch-baltischen Baronen und reichsdeutschen Offizieren befehligt wurden. Sie kämpften vor allem für die Erhaltung des politischen Einflusses der Deutschen in Lettland. Waffen und Munition erhielten sie von der 8. deutschen Armee.
Der Kampf zwischen den lettischen Schützen in russischen Diensten und den deutschen Truppen zog sich lange hin. Die »nationalen« lettischen Verbände waren kraftlos und konnten die Ereignisse nicht beeinflussen. Anfang 1919 hatte die nationale lettische Regierung nur eine Kompanie mit hundertzweiunddreißig Mann an der Front.
Im Frühjahr 1919 wurde die Front wieder nach Osten verschoben: ausländische Kräfte waren inzwischen ins Land gebracht worden, und die Russen waren geschwächt. Überall in der Sowjetunion raste der Bürgerkrieg. In Riga begannen die Deutschen mit Massenhinrichtungen von Letten. Es sollte aber dennoch eine neu aufgestellte nordlettische Armee sein, die in diesem Jahr den Sieg davontrug; im Juni wurden die Deutschen bei Cesis vernichtend geschlagen und im Herbst mit Hilfe der Engländer aus dem Land vertrieben. Im Osten stand zwar noch die rote lettisch-russische Armee: aber auch sie wurde geschlagen, nachdem polnische Truppen, die von Frankreich unterstützt wurden, auf der Seite der nordlettischen Armee in die Kämpfe eingegriffen hatten.
Am 11. August 1920 wurde der Friedensvertrag mit der Sowjetunion unterzeichnet.
Hinterher wurde die Errichtung der drei baltischen Staaten von kommunistischer Seite so beschrieben: die westlichen kapitalistischen Staaten hätten drei Randstaaten als Bollwerk gegen den Kommunismus geschaffen. Sie hätten einen »cordon sanitaire« errichtet, um ein Vordringen der Russen nach Westen zu verhindern. Diese Staaten seien auf russischem Gebiet, auf russischem Boden errichtet worden.
Vom Standpunkt der nationalen Letten sehen die Dinge ganz anders aus. Für sie war der Schaffung des freien Lettlands ein Befreiungskrieg vorausgegangen.
Wie auch immer: aus den unzähligen Interessenkollisionen ging ein selbständiges Lettland hervor.
Der Unabhängigkeitserklärung folgte eine kurze Zeit demokratischen Glücks: von 1920 bis 1934. Die Aufsplitterung in eine Vielzahl von Parteien wurde zwar immer schlimmer, aber die Demokratie funktionierte immerhin noch. 1934 gerieten Lettland und die anderen baltischen Staaten in den Sog des Faschismus, der in den dreißiger Jahren über Europa kam. 1926 wurde in Litauen eine faschistische Diktatur errichtet, 1934 kam in Estland ein halbfaschistisches Regime an die Macht, und in Lettland kam Ulmanis nach einem Staatsstreich am 15. Mai 1934 ans Ruder. Es entstand eine eigentümliche, patriarchalische Staatsform, das Parteiensystem wurde abgeschafft, die freie Meinungsäußerung gehörte der Vergangenheit an. Von einer bewusst faschistischen Ideologie kann man trotzdem nicht sprechen. Diese Diktatur stützte sich in der Folgezeit auf die Heimwehr.
Solange die staatliche Unabhängigkeit Lettlands dauerte, blieb das Land eine Diktatur.
Bei Ausbruch des Zweiten Weltkriegs war Lettlands Schicksal schon besiegelt. Im Deutsch-Sowjetischen Nichtangriffspakt von 1939 waren Lettland und das übrige Baltikum der
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