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Die Ausgelieferten

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Titel: Die Ausgelieferten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Per Olov Enquist
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unserer Seite. In Gedanken bin ich bei meinen Lieben, bei L. und A. Um 14 Uhr Parlamentssitzung unseretwegen. Unsere Angelegenheit wurde auf Montag verschoben.«
    24. November. »Bin zu aufgeregt, um irgend etwas tun zu können.«
    25. November. »Es gibt keine Hoffnung mehr.«
    Vom 25. November an verändert sich der Charakter der Aufzeichnungen. Die früher aufrechten und deutlichen Schriftzüge sind jetzt schrägstehend, größer, achtlos hingeworfen. In der Aufzeichnung vom 26. November heißt es:
    »Meine liebe Frau, verzeih mir, falls ich Dir etwas Böses angetan haben sollte. Denk immer an mich, vielleicht werde ich doch noch gerettet. Erzähl der kleinen A. alles über uns. Ich werde Schweden nicht lebend verlassen.«
    Auf der nächsten Seite, der letzten des Tagebuches, wo die Aufzeichnungen endgültig aufhören, wird die Handschrift fast unleserlich: die Zeilen laufen schräg über die Seite.
    Dort steht:
    »Stell irgendwann ein paar Blumen für mich auf den Altar. Grüß Sasu und unsere Bekannten. Ich schwöre Dir, meine liebe Frau, dass ich in jeder Stunde immer nur an Dich gedacht habe.
    Allerherzlichste Grüße
    an Dich und die kleine Astrida
    ewig Dein
    Hier enden die Aufzeichnungen. P. schickte das Tagebuch an einen Freund. Er wurde ausgeliefert. Heute lebt er als Musiklehrer in Lettland.
    Seine Frau hat er nie wiedergesehen.

14
    Der Standpunkt der baltischen Patrioten, dass es das einzig Richtige sei, den Glauben an die Selbständigkeit dieser Länder wachzuhalten, ist nach meiner Überzeugung reine Illusionspolitik. Bereits in der Zeit zwischen den Kriegen wurde ihre Zukunft stark bezweifelt. Die politische Reife dieser Völker konnte man kaum als sonderlich ausgeprägt bezeichnen.
    Östen Undén am 23.11.1945 vor dem Reichstag
    Das Recht der kleinen Staaten auf Unabhängigkeit sowie ihre rechtliche Gleichstellung mit den Großmächten sind alte und allgemein anerkannte Grundsätze des Völkerrechts. Diese Grundsätze sind auch in der Atlantik-Charta und in der Satzung der Vereinten Nationen ausdrücklich niedergelegt. Diese Rechte gelten uneingeschränkt auch für die baltischen Staaten.
    Bruno Kalnins in: »Der Freiheitskampf der baltischen Staaten«
    W ill man sich über die baltischen Legionäre eine Meinung bilden, darf man den politischen Status der baltischen Staaten nicht außer Betracht lassen. Ein Bild von der Geschichte dieser Länder lässt sich am besten durch eine Wiedergabe der Geschichte Lettlands gewinnen, die sich zwar von der Entwicklung der Staaten Estland und Litauen unterscheidet, gleichwohl aber als repräsentativ für die Geschichte des Baltikums gelten kann.
    Außerdem: die meisten Balten in Ränneslätt waren ohnehin Letten.
    Bis Anfang des dreizehnten Jahrhunderts waren die lettischen Stämme frei. Dann kamen die deutschen Ritterorden, und in der Folgezeit gehörte Lettland wie das übrige Baltikum zu jenen Gebieten, die zwischen benachbarten Großmächten hin- und hergeworfen wurden: Tauschobjekte und Draufgaben bei Friedensschlüssen. 1629 wurden Estland und das nördliche Lettland schwedisch; damit begann die gute Schweden-Zeit, die bis 1721 währte. In jenem Jahr brach Russland zur Ostsee durch. Im Frieden von Nystad erhielten die Russen Estland und das nördliche Lettland, 1772 wurde das östliche Lettland annektiert und 1795 auch noch das südliche.
    Danach blieb Lettland bis zum Ende des Ersten Weltkriegs in russischer Hand; so spät wurden die baltischen Staaten zum erstenmal selbständig.
    Der Freiheitskrieg, der Prozess der Loslösung von Russland, dauerte von 1918 bis 1920. Über diese Zeit wird in vielen verschiedenen Lesarten berichtet, je nach dem ideologischen Standpunkt. Auf die russische Revolution von 1917 folgte 1918 der Frieden von Brest-Litowsk. Litauen und Kurland fielen an Deutschland, Riga sollte ein Freistaat werden; das nördliche Lettland und Estland wurden ebenfalls Deutschland zugeschlagen.
    Der Rest ist ein wirres Knäuel aus Komplikationen und Interessenkollisionen. Eine kleine deutsche Minderheit aus deutschen Adligen und baltischen Kollaborateuren plante die Umwandlung der baltischen Staaten in formell unabhängige Marionettenstaaten unter deutscher Oberhoheit. Unterdessen suchten baltische Sozialdemokraten den Kontakt mit deutschen Parteifreunden, mit deren Hilfe sie die Umwandlung der baltischen Länder in selbständige Staaten zu erreichen hofften. Aber Deutschland brach zusammen; während einiger kurzer Wochen wurde die tatsächliche

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