Die Ausgelieferten
Ausdruck. » Vielleicht werden wir «, schreibt er, »das Stiftungsfest unserer Studentenverbindung in einem freien Lettland feiern können. Es stimmt, mein Freund, alle Anzeichen deuten darauf hin, dass dieser Wunsch keine Utopie ist. Hier im Lager spüren wir das sehr genau. Wir sehen zwar noch immer durch den Stacheldrahtzaun, aber das kennen wir schließlich von der Front her. Wir sind auch bereit, in schwedischen oder englischen Uniformen zu kämpfen, wenn es nötig sein sollte, um der Welt eine neue Ordnung und dauernden Frieden zu bescheren.«
Der neue Krieg ließ jedoch auf sich warten, die Friedenszeit hielt an, und die baltischen Legionäre erhielten keine Gelegenheit, wie Latvju Vards es prophezeit hatte, gegen die Russen ins Feld zu ziehen. Die Auslieferung rückte immer näher. So hatten sie sich die Rückkehr nach Lettland nicht vorgestellt; ohne Waffen, als Gefangene, hatten sie nie heimkehren wollen.
Wie verwandelt sich Hoffnung in Enttäuschung und Verzweiflung?
Am Nachmittag des 8. April 1945 spielt der lettische Offizier J.P. beim Gottesdienst in Rönne Orgel; am nächsten Tag geht er einkaufen und ersteht eine Uhrkette, zwei Notizblocks und ein Bernsteinarmband für seine Frau L. Am Abend fotografiert er sich in Uniform.
Während der folgenden Wochen notiert er immer wieder, dass er sich »L.’s wegen unruhig« fühlt. Am 24. April schreibt er: »Auf der Insel gehen jetzt Gerüchte um, dass ein russisch-amerikanischer Konflikt bevorsteht.« In der nächsten Woche wird die Lage zunehmend kritisch. »Meine Gedanken gehen zu meiner lieben L., wann werde ich meine geliebte Frau wiedersehen?«
Am folgenden Tag: »Esse wieder viel Kuchen. Mussolini gefallen.«
P. schreibt mit Bleistift, seine Schriftzüge sind aufrecht und sehr klar. In regelmäßigen Abständen kommt er auf die Sorge um »seine Lieben« zurück; seine Frau war schwanger als er sie verließ, und er hat seitdem keine Nachricht von ihr bekommen.
Er kommt nach Ystad, nach Bökeberg, nach Ränneslätt. »Morgens haben wir Fußball gespielt. Danach nehme ich am Tischtennis-Turnier des Lagers teil; ich lande auf dem zweiten Platz und gewinne zwanzig Zigaretten. Am Abend esse ich Kuchen und lerne Schwedisch. So sieht mein Tageslauf im Lager aus.« Am Abend des 5. Juni: »Wir lesen die lettischen Zeitungen.«
Am 9. Juni abends legt er Patiencen, »um zu sehen, wie es meiner L. geht. Anfangs sieht es nicht gut aus, aber später gehen die Spiele auf«.
Er ist aber nicht sicher. Am 14. Juli schreibt er: »Unlustiger Tag. Nachts, im Traum, sehe ich L., ich kämpfe mit ihr, danach werde ich wieder ruhig. Wache auf, schlafe wieder ein und träume, Kessels wäre zu mir gekommen und hätte mir gesagt, ich müsse nach Deutschland fahren, um meine Frau zu sehen. Hinterher gratuliert er mir zum Familienzuwachs. Ich wache auf. Was bedeutet das alles?«
Die Nachrichten von draußen werden immer alarmierender, die Auslieferung scheint unabwendbar zu sein, der August vergeht, die Aufzeichnungen werden immer knapper. »Ein Tag vergeht wie der andere.« – »Unruhige Gedanken.« – »Nichts Neues.« Am letzten Tag des Monats kauft er sich eine Reisetasche und versucht, sich Zivilkleidung zu beschaffen. »Kann das Uniformtragen nicht mehr ausstehen.«
Immer wieder findet sich in den Aufzeichnungen der Name seiner Frau L. »Denke immerzu an L.«
Am 12. September: »Großer Tag für mich, bekam einen Brief von L. Schade, dass sie so wenig schreibt. Hoffentlich geht alles gut, so dass wir uns über das glückliche Ereignis freuen können. Es wird schon werden, und wir werden uns bald wiedersehen.«
Am 14. erhält er noch einen Brief, der aber nichts Neues enthält. Erst am 7. Oktober trifft der Brief ein, auf den er so lange gewartet hat. »Der große Freudentag. Am 6. August wurde unser kleines Mädchen geboren, Astrida. Glücklich und beruhigt gehe ich abends zu Bett.«
Er bemüht sich um ein Visum für seine Familie, wobei ein schwedischer Offizier ihm hilft. Er beginnt Deutsch zu lernen, stellt einen Chor zusammen; es wird fleißig geprobt.
Am 21. November wird die Lage plötzlich kritisch. »Es sieht sehr schlecht aus. In der Zeitung stand etwas über unsere Auslieferung. Die Stimmung ist gedrückt. Die Volkspartei hat eine Anfrage an die Regierung gerichtet. Wir haben uns zum Hungerstreik entschlossen.«
22. November. »Heute morgen begann der Hungerstreik. Heute abend wird man über uns beschließen. Es heißt, wir hätten viele auf
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